Nr. 69 - Winter 2018-2019

ON LIT EN FRANCE
Sage mir, was du liest,
und ich sage dir, wer du bist …
Unsere Auswahl an Büchern, über die man zurzeit in Frankreich spricht
ROISSY
Tiffany Tavernier, Sabine Wespieser Éditeur,
280 Seiten, ISBN 978-2848053035
Tiffany Tavernier, die Tochter des berühmten
französischen Regisseurs Bertrand Tavernier,
veröffentlichte 1999 ihren ersten Roman mit dem
Titel Dans la nuit aussi le ciel. Darin schildert sie die
Erfahrungen, die sie mit 18 Jahren in den Sterbeanstalten
von Kalkutta machte. Seitdem hat sie
unzählige Reisen unternommen. Eines Tages sah
sie in einer Zeitung das Foto einer gut aussehenden
und gut gekleideten Frau im Alter von 35-40 Jahren.
Im begleitenden Text erfuhr sie mit Erstaunen,
dass es sich dabei um eine Obdachlose handelte,
die auf dem Londoner Flughafen
Heathrow lebte. Tiffany
ermittelte daraufhin vier Jahre
lang am Pariser Flughafen
Roissy über das Leben von
alleinstehenden Frauen und
Männern, die sich für ein
Leben auf einem Flughafen,
für ein Leben zwischen zwei
Welten entschieden haben.
Dabei stellte sie fest, dass es
so viele Menschen mit diesem
Schicksal gibt, dass man ihnen
sogar eine offizielle Bezeichnung
geben hat: les indécelables
(die Nichterkennbaren), weil
sie alles daransetzen, in der
Masse der Passagiere und
Mitarbeiter nicht erkannt zu
werden. Roissy erzählt vom Werdegang einer Frau
in dieser Situation, von ihrem Leben auf dem
Flughafen, ihren Begegnungen, ihren Ängsten,
ihren Fragen und ihren zahlreichen Ritualen.
Man blickt hinter die Kulissen des Flughafens und
entdeckt dabei eine Welt, die uns dazu bewegt,
unser eigenes Verhalten zu hinterfragen. Ein
wunderschönes Buch, äußerst sensibel geschrieben.
LA MER
EN FACE
Vladimir de Gmeline,
Éditions du Rocher,
422 Seiten, ISBN
978-2268096506
Der Autor
dieses Buches ist
Journalist bei der
Wochenzeitschrift
Marianne und
nimmt uns auf eine
erstaunliche Reise
mit. Oder vielmehr
auf mehrere Reisen,
denn während
des Lesens entdeckt
man, wie bei der russischen Matroschka, der
Puppe in der Puppe, eine Folge von « Romanen im
Roman ». Die Hauptperson, Philippe, ein Mann in
den Fünfzigern, beschließt nach Norddeutschland
zu reisen, auf den Spuren seines Onkels, einem
ehemaligen Mitglied der Waffen-SS, bei dem er
als Kind zu Besuch war. Im Verlauf der außergewöhnlich
sensibel erzählten Handlung spürt man
auf der einen Seite bei ihm das legitime Bedürfnis,
die Vergangenheit seiner Familie zu verstehen, auf
der anderen Seite jedoch auch die Furcht davor, zu
viel zu entdecken. Die Suche nach der wahren Vergangenheit
von Philippe wird jedoch urplötzlich
durch einen Anruf seiner Tochter unterbrochen,
die ihm mitteilt, dass sein Sohn, ein in Kanada
lebender Profihockeyspieler, gesundheitliche
Probleme hat. Philippe fliegt nach Montreal.
Dort beginnen Nachforschungen über Doping im
Sport. Man könnte meinen, dass zwischen diesen
Nachforschungen kein Zusammenhang besteht.
Doch das täuscht. Vielleicht gehört gerade das
auch zum Leben: von einer Welt in die andere
zu wechseln und jeder einen Sinn zu verleihen.
Ein schöner Roman, der nicht gleichgültig lässt.
16 · Frankreich erleben · Winter 2018/2019