Nr. 69 - Winter 2018-2019
Weihnachten im Jura: vom Rosenkranz zum Spielzeugland Provence: Tanzende Flamingos in der Camargue Elsass: Kaysersberg: eines der Lieblingsdörfer der Franzosen Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp: eine Rechenaufgabe für Le Corbusier Chantals Rezept: les encornets à la Sétoise
Weihnachten im Jura: vom Rosenkranz zum Spielzeugland
Provence: Tanzende Flamingos in der Camargue
Elsass: Kaysersberg: eines der Lieblingsdörfer der Franzosen
Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp: eine Rechenaufgabe für Le Corbusier
Chantals Rezept: les encornets à la Sétoise
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ART DE VIVRE Produkte<br />
Serie: Typisch französische Produkte (19)<br />
Le Livre de Poche<br />
eine kulturelle Revolution<br />
Es ist zwar nur ein Detail, aber ein aussagekräftiges:<br />
Um die Inflation im Land messen zu können,<br />
hat der französische Staat vor vielen Jahren<br />
ein Messinstrument kreiert, nämlich den<br />
Verbraucherpreisindex (VPI). Dieser basiert auf<br />
der jährlich beobachteten Preisentwicklung<br />
für einen durchschnittlichen Warenkorb, der<br />
sämtliche Waren und Dienstleistungen enthält,<br />
die ein Franzose zur Deckung seiner<br />
Grundbedürfnisse benötigt. Mit anderen Worten:<br />
alle Produkte und Dienstleistungen, die<br />
für den Alltag der Menschen wichtig und nützlich<br />
sind. In den 60er-Jahren bestand der Warenkorb<br />
aus 254 Produkten (heute sind es eine<br />
Million). Und was fand man da neben Zucker,<br />
Milch, Baguette und Metroticket? Ein Buch!<br />
Aber nicht irgendein Buch, sondern eines aus<br />
der Reihe Le Livre de Poche.<br />
Dabei war diese Buchreihe damals noch relativ<br />
jung: Es gab sie erst seit ein paar Jahrzehnten,<br />
was in der Verlagswelt quasi nichts ist. Sie wurde<br />
im Februar 1953 durch Henri Filipacchi (1900-1961)<br />
kreiert, einem bedeutenden Mann der französischen<br />
Verlagswelt, dem es nicht an Innovationsfreude mangelte.<br />
Zum damaligen Zeitpunkt arbeitete er in einer führenden<br />
Position beim Verlag Librairie Hachette und war<br />
bereits dafür bekannt, dass er eine entscheidende Rolle<br />
bei der Lancierung der Bibliothèque de la Pléiade (siehe<br />
Frankreich erleben <strong>Nr</strong>. 64, Typisch französische Produkte)<br />
gespielt hatte.<br />
Heute erscheint seine Idee zwar ganz simpel, damals<br />
war sie jedoch revolutionär. Es ging darum, dem Buch<br />
seinen elitären Charakter zu nehmen, es der breiten<br />
Masse zugänglich zu machen und die Förderung der<br />
Schulbildung in der Nachkriegszeit zu unterstützen.<br />
Nach Ansicht von Henri Filipacchi sollte jeder Mensch<br />
lesen können. Lesen musste eine Art von Grundrecht<br />
und das Buch vom luxuriösen und elitären Produkt<br />
zum alltäglichen Begleiter werden. Dabei durfte es keine<br />
Grenzen geben: Es war ganz egal, ob es sich dabei<br />
um Literatur, Poesie, Krimis, Kochbücher oder Bastelanleitungen<br />
handelte … Jeder sollte in die Lage versetzt<br />
werden, frei zu entscheiden, was er lesen wollte.<br />
Um das Buch als solches populär zu machen, griff<br />
Henri Filipacchi damals eine bereits bekannte Idee<br />
auf, nämlich die des Taschenformats. Als dessen Wegbereiter<br />
gilt der deutsche Verlag Tauchnitz, der schon<br />
vor 1900 die ersten Taschenbücher herausbrachte. 1905<br />
lancierte der französische Verlag Fayard mit dem Livre<br />
Populaire ebenfalls eine Buchreihe im kleinen Format.<br />
Henri Filipacchi ging aber noch weiter: Er bediente<br />
sich für sein Livre de Poche der seinerzeit neuesten<br />
Technik, um die Produktionskosten zu reduzieren und<br />
gleichzeitig ein modernes und attraktiv aussehendes<br />
Produkt anbieten zu können.<br />
In der Reihe Le Livre de Poche gab es ab 1953 also<br />
eine ganze Serie von Werken zu einem Preis von zwei<br />
Francs: kaum teurer als eine Tageszeitung und billiger<br />
als eine Zeitschrift! Dieses Angebot war in der Tat<br />
absolut revolutionär. Zunächst knirschten zwar einige<br />
92 · Frankreich erleben · <strong>Winter</strong> <strong>2018</strong>/<strong>2019</strong>