Mein/4 Stadtmagazin Berlin 3/2021
Mein/4 Stadtmagazin Berlin, Ausgabe Dezember 2020
Mein/4 Stadtmagazin Berlin, Ausgabe Dezember 2020
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das Westberlin jener Jahre so plastisch zu beschreiben
vermag, dass man es nicht nur sehen und hören kann,
sondern an vielen Stellen auch riechen und schmecken.
Katharina Fuchs: Neuleben. Droemer TB 2021,
496 Seiten, 10,99 €
Das Leben dazwischen
Es ist schwer vorstellbar, was Menschen durchmachen, die
sich entscheiden oder gezwungen werden, ihre Heimat
zu verlassen, weil Krieg ihr Haus zerstört und Verwandte
in den Tod gerissen hat, weil sie ihres Glaubens wegen in
Lebensgefahr sind, weil die Familie sich von ihnen lossagt
oder weil sie im Rahmen des Familiennachzugs ihr Heimatland
hinter sich lassen. Mit der Entscheidung zu gehen,
betreten diese Menschen Zwischenräume – geografische,
soziale, kulturelle und emotionale. Zwischenräume, die sie
auch nicht verlassen, wenn sie in dem Land „angekommen“
sind, das ihnen Zuflucht oder Asyl gewährt. Sprachliche
Hürden, emotionale Überforderung oder behördliche
Einschränkungen verhindern das Ankommen, überlassen
die Geflüchteten einem Leben im Dazwischen. In Sarah
Jurkiewicz‘ Interviewband erzählen neun Frauen von den
bedrückenden Anlässen, die sie zur Flucht bewegten, von
den abenteuerlichen und oftmals auch gefährlichen Reisen,
von der Aufnahme in Berliner Flüchtlingsunterkünften, in
denen einige von ihnen nach Jahren noch leben. Acht der
Frauen kommen aus Afghanistan, Kamerun, Syrien und
dem Irak. Die neunte wurde vor mehr als 70 Jahren mit
ihrer Familie aus Ostpreußen vertrieben. Ihre Geschichte,
platziert zwischen den anderen, macht deutlich, dass
Fluchten weder Zeit noch Raum, stets jedoch Ursachen
kennen, und zumeist mit dem Wunsch verbunden sind,
die ungewissen Zwischenräume zu verlassen: Um hier
endgültig anzukommen oder bald wieder nach Hause
zurückkehren zu dürfen. Die Gespräche sind sowohl in
der jeweiligen Muttersprache der Frauen als auch in deutscher
Übersetzung abgedruckt, womit das schön gestaltete
Buch selbst zum Zwischenraum wird.
Sarah Jurkiewicz (Hrsg.): Zwischenräume.
tobios publishing 2020, 222 Seiten, 8,– €
Sehnsucht nach dem Beat
Eine Handvoll junger Menschen streift wagemutig durch
das nächtliche Berlin. Ihr Ziel: Der Club, das bass-schwer
pulsierende Herz dieser Stadt. Sie tanzen, berauschen
sich an- und miteinander, verlieben sich. Gemeinsam
erleben sie eine schicksalhafte Nacht, in der Pakte geschlossen
und Herzen gebrochen werden und in der Geschlechtergrenzen
keine Rolle mehr spielen. Sie verlassen
den Club mit dem Ziel, neue Wege zu beschreiten und
streifen noch immer wagemutig durch das nun morgendliche
Berlin, das neben den Hauptfiguren Protagonist
dieses in Episoden gestalteten Textes ist. Jetzt, wo die
Clubs schon ein Jahr geschlossen sind, lässt sich Kevin
Junks Debütroman lesen als Dokument einer gerade
vergangenen Ära, von der niemand weiß, ob sie noch
einmal so wird aufleben können. Junk weckt die Sehnsucht
nach dem Beat. Zugleich formuliert er mit seinem
rhythmisierten und sprachlich überaus präzisen Text eine
Art Manifest für seine Generation.
Kevin Junk: Fromme Wölfe. Querverlag 2021,
290 Seiten, 18,– €
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