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Mein/4 Stadtmagazin Berlin 3/2021

Mein/4 Stadtmagazin Berlin, Ausgabe Dezember 2020

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Bärbels ungebetener Ratschlag

und sie ist absolut und unendlich und bedingungslos. So

wie sie sein soll. Einfach ist das aber auch nicht, weil dein

Herz dann permanent außerhalb von dir unterwegs ist

und du immer Angst um diese Menschlein hast.

Botho Strauß hat mal ein Buch geschrieben: „Über Liebe“.

Und darin steht auch ein Satz, der es in mein Tagebuch

geschafft hat. Er schreibt, man müsse einander

Raum geben, immer wieder auch auf Abstand gehen

als Paar … sonst steht man eines Tages zu dicht voreinander,

als dass man sich überhaupt noch sehen könnte

und fragt sich: „Wen lieb ich mir da?“

Abstand ist ja gerade Thema. Zu viel und zu wenig. Und

genau das Maß an Abstand kann über die Liebe entscheiden.

Nicht nur bei Paaren. Auch bei Freunden.

Manchmal ist es ganz wichtig, Abstand zu

gewinnen, um sich wieder richtig lieb haben

zu können. Damit wieder Sehnsucht

wächst. Vor einem Jahr kam

der Lockdown vielen doch gar nicht

ungelegen. Vorsicht mit deinen Wünschen,

sie könnten in Erfüllung gehen!

Wer von euch hat sich eine Auszeit gewünscht?

Einfach mal Pause. Stillstand?

Ich. Bin ich jetzt Schuld? Sorry. Eine Pause. Tja.

Da isse. Das Universum ist halt kreativer und krasser

in der Umsetzung, als wir uns das wünschen könnten.

Und jetzt? All you need is love?

Beziehungsstatus: unkompliziert – frei nach Facebook.

Also, ich finde Arletty hat recht. Und die Götter auch.

Ich liebe gerne und fühle mich gut dabei. Und mehr Liebe

an sich täte der Welt schon gut. Vielleicht sollten wir

das alle üben. Wir müssen ja immer noch Abstand halten,

da müssen wir nicht mit Mitmenschen anfangen: Essen.

Wetter. Gerüche. Bücher. Und dann vielleicht Pflanzen,

Tiere … sich selber. Liebe ist gesund. Hass macht krank.

Eigentlich keine schwierige Entscheidung, wenn man vor

dieser Alternative steht, selbst der egoistischste Mensch,

der nur sich selbst liebt, müsste das verstehen.

Mit dem Liebenüben nimmt das Hassen vielleicht ab.

Das nervt mich nämlich. Selbst wenn ich mit Liebe begonnen

habe und zum Beispiel bei Facebook schreibe:

Ich liebe Sonnenschein! Dann kriege ich 17 Knuddler

und drei Daumen hoch – und 58 wütende Gesichter,

die mir sagen: „Aha, was ist mit Regen? Der ist total

wichtig für unsere Landwirtschaft – und unsere Wälder

sind auch ganz trocken. Echt scheiße von dir, hier den

Regen so zu dissen! Du blöde Kuh!“

Und darunter streiten sich dann 179 Menschen über die

Kommasetzung, den Regen an sich, das Hassenswerteste

aneinander und beschuldigen sich gegenseitig, den Klimawandel

zu leugnen oder zu befürworten. Sehr verwirrend.

Und nicht liebenswert. Trotz des Abstands scheint

Liebe gerade noch komplizierter. Weil jeder dünnhäutig

ist. Weil du nicht weißt, wie die persönliche Kurve bezüglich

Sorge oder Zuversicht des anderen gerade steht.

Da kannst du einen Witz am einen Tag belachen und

am nächsten darüber in Tränen ausbrechen. Wenn mir

einer sagt: „Ja, die Kinder müssen zusammen spielen,

das ist doch wichtig für ihre seelische Gesundheit. Und

die gehen ja auch weniger viral als Erwachsene – oder

wie nennt man das?“, nicke ich einmal nachsichtig und

ein andermal schlag ich fast zu. Jeder, der gerade in

einer anderen Stimmungslage ist, scheint dich persönlich

anzugreifen.

Uff. Lösungsvorschläge bitte! Freundliche, zugewandte,

konstruktive! Es ist halt leider nicht schwarz und weiß,

es gibt viele Nuancen, es gibt lauter persönliche Sichten

auf alles. Es ist nicht immer einfach, andere Ansichten

liebevoll zuzulassen.

Und Toleranz ist eben keine Einbahnstraße,

funktioniert nur in beide Richtungen. Meine

persönlichen Spleens und Vorlieben dürfen

halt keinen anderen schädigen oder übermäßig

stressen. Aber da geht es ja schon los.

Manchmal bin ich gestresst, weil der Mensch,

den ich eigentlich liebe, ATMET. Andere werden

aggressiv, weil sie NACHBARN haben

mitten in der Großstadt. Kompliziert.

Kategorischer Imperativ dann. Gut, Kant war auch ne

„cunt“, kann man natürlich sagen, wenn man seine Theorien

zu den „Rassen“ liest – aber er war halt auch ein Kind

bzw. ein alter weißer Mann seiner Zeit. Sein berühmter

Satz an sich stimmt ja. (Wisst ihr schon, oder? Handle so,

dass die Maxime deines Handelns … oder halt: Was du

nicht willst, dass man dir tut …) Aber das konsequent

zu Ende gedacht …? Puh. Das überfordert mich in ähnlicher

Weise, wie wenn ich versuche, mir das unendliche

Weltall beim Ausdehnen vorzustellen.

Wie sähe denn z. B. ein bequemes Leben OHNE AUS-

BEUTUNG ANDERER aus? Reicht da Liebe?

„Liebe – ist doch so einfach!“ Der Film, in dem dieser

Satz fällt, wurde mitten im Zweiten Weltkrieg gedreht,

möglichst lange und mit möglichst vielen Menschen, die

die Produzenten dadurch schützen wollten, dass sie bei

dem Werk gebraucht wurden. Das war nervenaufreibend.

Anstrengend. Viele hatten Angst. Und keiner wusste,

wann es endlich vorbei sein würde und das Leben endlich

wieder normal, schön und einfach.

Arletty, die große Diva, die keinen Nachnamen brauchte,

hatte währenddessen eine Liebesbeziehung mit einem

Deutschen und wurde nach der Filmpremiere als Kollaborateurin

verurteilt. Auch nicht unkompliziert. Und

doch sagt sie diesen Satz im Film mit einer Klarheit, dass

er sich in ein siebzehnjähriges Herz bohrt.

Also: Liebe. Darauf läuft es raus. Kompliziert oder nicht:

Liebt! Den Rest schaffen wir dann schon. ■

mein/4

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