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Kunstbulletin Dezember 2023

Unsere Dezember Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Chiara Bersani, Delphine Reist, Anita Muçolli, Reto Boller, uvm.

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Corps à corps — Menschen ins Bild gesetzt<br />

Das Centre Pompidou spannt mit dem Sammler Marin Karmitz<br />

zusammen und zeigt in einem Parforceritt durch die Fotografiegeschichte<br />

über fünfhundert Darstellungen des modernen Menschen.<br />

Der kämpferische Ausstellungstitel richtet sich auch an<br />

die reichen Platzhirsche in der Pariser Kulturszene.<br />

Paris — Während der Paris+ by Art Basel liessen die Milliardäre ihre Ausstellungs-<br />

Muskeln spielen: Bernard Arnault mit Mark Rothko, François Pinault mit Mike Kelley.<br />

Spiel, Satz, Sieg gegen öffentliche Museen? Einen kräftigen, bis zur Messe Paris<br />

Photo im November nachhallenden Aufschlag dagegen macht das Centre Pompidou<br />

mit ‹Corps à corps›, zu deutsch «Nahkampf» oder auch «Kopf an Kopf». Diese<br />

‹Histoire(s) de la photographie› versammelt rund fünfhundert Fotografien von<br />

120 Lichtbildner:innen des 20. und 21. Jahrhunderts: von Helmar Lerskis, Dora Maars<br />

oder Paul Strands Gesichtern «einfacher Leute» über André Bretons Fotomaton-<br />

Porträt, 1928/29, Christian Boltanskis «mögliche Selbstporträts», 2007, Dorothea<br />

Langes Bild zweier Frauenbeine, auf denen die Nähte von geflickten Strumpfhosen<br />

wie Narben aufliegen, 1934, bis zu den Strassenszenen der 68er-Revolte von Janine<br />

Niépce und Gilles Caron oder Lukas Hoffmanns oder Valérie Jouves zeitgenössischen<br />

Stadtraum-Studien.<br />

Mit viel Sachverstand und Feingefühl verfolgt Kuratorin Julie Jones die Darstellung<br />

des modernen Menschen durch die Fotografiegeschichte, ohne nur auf Wiedererkennbares<br />

zu setzen. Das Kapitel ‹Making human junk› stellt mit Plakaten des US-amerikanischen<br />

Fotografen Lewis Hine, der seit 1904 für die Rechte von Arbeiter:innen und<br />

gegen Kinderarbeit kämpfte, drastisch den politischen Impetus aus – und passt zum<br />

aktuellen Streik der fünfhundert Angestellten, die noch immer nicht wissen, was aus<br />

ihnen wird, wenn das Centre Pompidou 2025 für fünf Jahre schliesst.<br />

Sammlungsleiter Florian Ebner freut sich, endlich die Schätze aus der 45’000 Abzüge<br />

und 60’000 Negative umfassenden Fotosammlung des Musée national d’art<br />

moderne in den honorigen sechsten Stock gehoben zu haben. «Diese Zusammenarbeit»,<br />

erklärt er, «soll als widerständige Geste verstanden werden angesichts einer<br />

Übermacht superreicher Sammler, die mit eigenen Schauhäusern das Feld besetzen<br />

wollen.» Marin Karmitz, vor 85 Jahren in Bukarest geboren, Kinogründer, Produzent,<br />

Regisseur, Teil von Frankreichs Kinogeschichte und engagierter Sammler, hat die<br />

Hälfte der Exponate beigetragen. «Karmitz ist kenntnisreich, die Werke, die er kauft,<br />

hängen mit seinem Leben zusammen», erklärt Ebner, «er setzt sich ein, gibt Leihgaben<br />

und Schenkungen vertrauensvoll in die öffentliche Hand.» Ein gutes Beispiel,<br />

wie Finanzkraft Definitionsmacht teilt, statt sie an sich zu reissen. J. Emil Sennewald<br />

→ ‹Corps à corps – Histoire(s) de la photographie›, Centre Pompidou, bis 25.3.<br />

↗ centrepompidou.fr<br />

100 <strong>Kunstbulletin</strong> 12/<strong>2023</strong>

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