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Kunstbulletin Dezember 2023

Unsere Dezember Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Chiara Bersani, Delphine Reist, Anita Muçolli, Reto Boller, uvm.

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wir gerade noch zu heben und zu tragen vermöchten. Muçollis Interesse an dieser<br />

Tierart gilt der Tatsache, dass ihre Männchen nach der Zeugung und ihre Weibchen<br />

nach der Entbindung des Nachwuchses sterben.<br />

Auch bei allen weiteren Skulpturen in dieser grossen Halle spielt die Künstlerin<br />

mit Formen, die dem menschlichen Mass angeglichen sind, und überführt in einem<br />

Fall ihre Inspirationsquelle fast unverändert in ein Werk: Für ‹Endings› hat Muçolli<br />

schlicht und einfach massstabsgetreu zwei Sezierbetten mit einem Ablauf nachgebildet<br />

und an die Wand gelehnt, sodass sich die Besucher:innen in ihnen spiegeln.<br />

Gleichzeitig wird man dabei auf die Nachtfalter aufmerksam – ein altes Vanitassymbol<br />

–, die Muçolli an verschiedenen Orten im Gewölbe des CACY versteckt hat.<br />

Anthropomorphe Dimensionen<br />

In allen drei weiteren Stahlskulpturen in diesem Raum, die wie ‹Vertigo› den Kreis<br />

aufgreifen, würde ein menschlicher Körper ebenfalls Platz finden. Die monumentalste<br />

ist ein Blow-up eines Bioreaktors wie derjenige von 2021, der zum Uterus mutierte<br />

und erstmals einen aus Stammzellen fabrizierten Mausembryo hervorbrachte.<br />

Daneben stellen ein wie für uns gemachtes Hamsterrad und eine etwa gleich grosse<br />

Flugzeugdüse die dialektische Frage zu Kontrolle und Kontrollverlust in dieser<br />

schwindelerregenden Entwicklung und überhaupt im Fortschritt: Ist die Technologie<br />

zu einem gefährlichen Selbstläufer geworden, der auch in falsche Hände kommen<br />

kann, wie es die Fiktion dieses Ad-hoc-Laboratoriums von Anita Muçolli schon anfangs<br />

suggeriert hat? Oder ist unsere Angst davor irrational und unbegründet, wie etwa<br />

die Scheu vieler Menschen vor dem Fliegen? Allerdings kann so ein Flug durchaus<br />

tödlich enden, wenn eine Panne in der Kette von Sicherheitsvorkehrungen eintritt,<br />

die Pilot:innen patzen oder gar verrückt und bösartig sind.<br />

Da wären wir wieder beim Problem der Verwaltung eines solchen transhumanistischen<br />

Wissens. Man beginnt in dieser Ausstellung darüber nachzudenken, ob<br />

die heute von der Wissenschaft statt von der Religion suggerierte Verdrängung der<br />

menschlichen Endlichkeit uns nicht auch blind dafür macht, dass das Leben an und<br />

für sich noch nie in grösserer Gefahr war als heute. Geburt und Tod spielen sich schon<br />

seit Generationen immer weniger zu Hause im Kreise der Liebsten ab, sondern in biotechnischen<br />

Laboratorien, was gemäss Michel Foucault Asyle, Spitäler und Hospize<br />

von Anfang an waren.<br />

Im Grunde wäre die Zeit für Leben auf der Erde, darunter menschliches, noch<br />

lange nicht abgelaufen! Aber nicht zuletzt bringt es das allgemein regierende Fortschrittsparadigma<br />

seit dem 18. Jahrhundert in Gefahr. Anita Muçollis Kunst beleuchtet<br />

diesen Zwiespalt unentwegt und fragt dagegen, was ein gutes Leben für uns wie<br />

auch für die anderen Lebensarten auf diesem Planeten sein könnte.<br />

Katharina Holderegger, Kunsthistorikerin, Kritikerin, Kuratorin, lebt mit ihrer Familie am Genfersee,<br />

dissertiert mit ‹Monument und Geschlecht› an der Universität Bern. kholderegger@hotmail.com<br />

→ ‹Anita Muçolli – Purity›, Centre d’art contemporain Yverdon-les-Bains CACY, bis 22.12.<br />

↗ centre-art-yverdon.ch<br />

FOKUS // ANITA MUÇOLLI<br />

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