alle im selben Boot: Das Virus bedroht uns auf sehr ungleiche Weise. Eine Politik der Stärke hat eine Nekropolitik hervorgebracht, die zynisch das Sterben der anderen hinnimmt. Es ist Zeit, die Fragilität unseres Lebens, die Abhängigkeit von den anderen anzuerkennen und umzulenken hin zu einer Politik der Fragilität, die soziale, aber auch eine kognitive Gerechtigkeit fordert. Vielleicht kann uns die Kunst helfen, die zarten Töne und die Stimmen des Dazwischen zu hören, die Widersprüche und Ambivalenzen auszuhalten und auch die Stille. Vielleicht.» Die Stimmen des Dazwischen, die zarten Zwischentöne, sind ein Grundthema von Bersani, der Raum, den sie zu schaffen sucht, ist ein gemeinsamer, ein Chor, in dem man einander zuhören mag. Die Klänge und Fragmente des Poetischen, die im Soundscape dissonant auftauchen, sublimieren die individuellen Stimmen der Performerinnen, die ihre eigenen Geschichten in eine polyphone Erzählung von Widerstand und poetischer Resilienz einfügen. Die gestischen Äusserungen von Schmerz und Lust verwandeln die Erfahrung derselben, die Bewegungen der Körper schaffen Beziehungen zwischen ihnen und uns, die multiperspektivische Erzählung bezieht die Zuschauer:innen mit ein, wir alle sind Teil eines Systems, das die verhandelten Ungerechtigkeiten hervorbringt, die durch eine radikale Anerkennung unser aller Fragilität aufgehoben werden könnten. Die aus der Pandemie herausgewachsenen Nekropolitiken manifestieren sich auch in den zerschundenen Körpern in der Ukraine und in Israel / Palästina. Die Armeen der vermeintlich Aufrechten führen wieder Krieg in Europa. Die alten Männer, die sie anführen, scheinen den Tod zu lieben. 1435 entwickelte Leon Battista Alberti (1404–1472) eine radikale Lesart der Kunst. Für ihn stellte der Narziss-Mythos nicht nur ein Symbol für die Gefahren der Eitelkeit und Selbstbezogenheit dar, sondern auch die Geburt der Kunst. Der Moment der Selbsterkenntnis, in dem sich das Bild in der Reflexion in konzentrischen Kreisen entmaterialisiert, verbindet sich mit der Erkenntnis des Todes und generiert ein Aufbäumen dagegen mit den Mitteln der Poetik. Das Einfangen dieser Verbindung, die Vergewisserung des endlichen Selbst, erfordert eine Wahrnehmung der Umwelt in konzentrischen Kreisen um den Menschen: die Natur, die Pflanzen, die Landschaft, die Architekturen, die politischen und religi- Chiara Bersani (*1984, San Rocco al Porto) lebt in Pontenure, Piacenza Performerin und Choreografin im Bereich Darstellende Kunst, Forschungstheater und zeitgenössischer Tanz Performances (Auswahl) <strong>2023</strong> ‹Deserters›, GAMeC, Bergamo; ‹Sottobosco›, Transform23, Leeds / Centrale Fies, Dro; ‹Gentle Unicorn›, tanzhaus nrw, Düsseldorf; ‹Seeking Unicorns›, Kunsthalle Bremen 2022 ‹Seeking Unicorns›, The National Gallery, London 2021 ‹Underwood›, National Museum, Warschau; ‹L’animale›, La Triennale, Mailand; ‹Fionde›, Tanz im August, Internationales Festival Berlin 2020 ‹Gentle Unicorn›, Tanzquartier Wien 2019 ‹Gentle Unicorn›, Edinburgh Fringe Festival 32 <strong>Kunstbulletin</strong> 12/<strong>2023</strong>
Chiara Bersani · Deserters, <strong>2023</strong>, Performance, Kunsthaus Baselland, Muttenz. Foto: Pati Grabowicz FOKUS // CHIARA BERSANI 33
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