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Kunstbulletin Dezember 2023

Unsere Dezember Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Chiara Bersani, Delphine Reist, Anita Muçolli, Reto Boller, uvm.

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Victor Burgin<br />

Paris — «Eine Form, die weder geometrisch<br />

noch organisch sei, hat Donald Judd mal<br />

in einem Seminar gesagt, wäre eine grosse<br />

Entdeckung. Für mich konnte das nur eine<br />

psychologische Form sein – und die wollte ich<br />

erzeugen», erzählt Victor Burgin, 82, schlank,<br />

britisch, ruhig und klar, im Jeu de Paume.<br />

Fünfzig Schaffensjahre überspannt seine<br />

Retrospektive ‹Ça›, die das in Frankreich wenig<br />

bekannte Werk präsentiert.<br />

Am Beginn der Schau hängt ‹Performative/Narrative›,<br />

1971: Ein nach einem Protokoll erstellter<br />

Text begleitet 16 motivgleiche Fotografien. Er<br />

suggeriert Inhalt, Sinn. Das ist Burgins roter<br />

Faden: Bild-Erzählungen, die im Zwischenraum<br />

von Text und Foto entstehen. Dem Mitgründer<br />

der Konzeptkunst und Bild-Theoretiker geht<br />

es ums «Denken der Bilder», welche Gedanken<br />

sie anregen und was sie selbst zu denken<br />

scheinen. Dafür stellt der in San Francisco<br />

lebende Brite ihnen Texte zur Seite. «Zuerst<br />

entsteht eine Erzählung, dann wechsle ich zu<br />

einer Kindheitserinnerung, die wird zu einem<br />

Haiku, das wie eine Momentaufnahme dieser<br />

Erinnerung ein Bild generiert, und so weiter»,<br />

beschreibt er sein Vorgehen. «Es geht mir um<br />

das Reale und die Konfrontation damit, darum,<br />

wie ‹Fantasmata›, Erinnerungen unser reales<br />

Leben bedingen.»<br />

Beeinflusst von Phänomenologie und Psychoanalyse<br />

verflicht er 1982 in sieben Bildern der<br />

‹Gradiva›, dieser modernen mythologischen<br />

Gestalt aus Wilhelm Jensens Roman, dessen<br />

Interpretation durch Freud und seine eigene<br />

Geschichte. Er erzählt dieses «pompejanische<br />

Phantasiestück» fotografisch weiter, setzt<br />

einen Frauenfuss an die Stelle der «Schreitenden».<br />

Zwischen den Bildern scheint die<br />

fetischisierende Darstellung der Frau auf,<br />

Burgins anderes grosses Forschungsfeld.<br />

Sein 3D-animierter Film ‹Dear Urania›, 2016,<br />

verdeutlicht, dass bildinduzierte Assoziationen,<br />

Empfindungen und Wahrheiten nur als Ruine<br />

zu haben sind. Wenn Vergangenes erzählt wird<br />

mit dem Anspruch, es als Abbildung zu vergegenwärtigen,<br />

zerbricht es. Zwischen diesen<br />

Trümmern findet Burgin Raum für poetische<br />

Veränderung. «Letztlich», sagt er vor dem<br />

skulpturalen Wandtext ‹Any Moment›, 1970,<br />

«entstehen die Bilder doch immer zuerst in<br />

meinem Kopf.» Und in dem der Betrachtenden:<br />

«Ich finde diese Ich, Ich, Ich-Haltung vieler<br />

Künstler schrecklich, möchte ein ‹Ça› ohne<br />

ein ‹moi› erschaffen», erklärt er den Titel der<br />

Schau. Dass das Wörtchen Roland Barthes’<br />

Foto-Essay ‹Die helle Kammer› entlehnt ist,<br />

bietet bereits wieder einen weiteren Faden für<br />

die Lesart dieser Ausstellung. JES<br />

Victor Burgin · Gradiva, 1982, 7 Tafeln,<br />

Schwarz-Weiss-Fotografien, Texte.<br />

Foto: Courtesy Galerie Thomas Zander, Köln<br />

Victor Burgin · Dear Urania, 2016 (Detail),<br />

2 farbige Videos, ohne Ton, 12’, Loop, digitale<br />

Zeichnungen, Wandtext. Foto: Courtesy Galleria<br />

Lia Rumma, Mailand / Neapel<br />

→ Jeu de Paume Paris, bis 28.1.<br />

↗ jeudepaume.org<br />

→ Centre photographique d’Île-de-France,<br />

bis 21.1.<br />

↗ cpif.net<br />

82 <strong>Kunstbulletin</strong> 12/<strong>2023</strong>

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