Corps à corps — Menschen ins Bild gesetzt Das Centre Pompidou spannt mit dem Sammler Marin Karmitz zusammen und zeigt in einem Parforceritt durch die Fotografiegeschichte über fünfhundert Darstellungen des modernen Menschen. Der kämpferische Ausstellungstitel richtet sich auch an die reichen Platzhirsche in der Pariser Kulturszene. Paris — Während der Paris+ by Art Basel liessen die Milliardäre ihre Ausstellungs- Muskeln spielen: Bernard Arnault mit Mark Rothko, François Pinault mit Mike Kelley. Spiel, Satz, Sieg gegen öffentliche Museen? Einen kräftigen, bis zur Messe Paris Photo im November nachhallenden Aufschlag dagegen macht das Centre Pompidou mit ‹Corps à corps›, zu deutsch «Nahkampf» oder auch «Kopf an Kopf». Diese ‹Histoire(s) de la photographie› versammelt rund fünfhundert Fotografien von 120 Lichtbildner:innen des 20. und 21. Jahrhunderts: von Helmar Lerskis, Dora Maars oder Paul Strands Gesichtern «einfacher Leute» über André Bretons Fotomaton- Porträt, 1928/29, Christian Boltanskis «mögliche Selbstporträts», 2007, Dorothea Langes Bild zweier Frauenbeine, auf denen die Nähte von geflickten Strumpfhosen wie Narben aufliegen, 1934, bis zu den Strassenszenen der 68er-Revolte von Janine Niépce und Gilles Caron oder Lukas Hoffmanns oder Valérie Jouves zeitgenössischen Stadtraum-Studien. Mit viel Sachverstand und Feingefühl verfolgt Kuratorin Julie Jones die Darstellung des modernen Menschen durch die Fotografiegeschichte, ohne nur auf Wiedererkennbares zu setzen. Das Kapitel ‹Making human junk› stellt mit Plakaten des US-amerikanischen Fotografen Lewis Hine, der seit 1904 für die Rechte von Arbeiter:innen und gegen Kinderarbeit kämpfte, drastisch den politischen Impetus aus – und passt zum aktuellen Streik der fünfhundert Angestellten, die noch immer nicht wissen, was aus ihnen wird, wenn das Centre Pompidou 2025 für fünf Jahre schliesst. Sammlungsleiter Florian Ebner freut sich, endlich die Schätze aus der 45’000 Abzüge und 60’000 Negative umfassenden Fotosammlung des Musée national d’art moderne in den honorigen sechsten Stock gehoben zu haben. «Diese Zusammenarbeit», erklärt er, «soll als widerständige Geste verstanden werden angesichts einer Übermacht superreicher Sammler, die mit eigenen Schauhäusern das Feld besetzen wollen.» Marin Karmitz, vor 85 Jahren in Bukarest geboren, Kinogründer, Produzent, Regisseur, Teil von Frankreichs Kinogeschichte und engagierter Sammler, hat die Hälfte der Exponate beigetragen. «Karmitz ist kenntnisreich, die Werke, die er kauft, hängen mit seinem Leben zusammen», erklärt Ebner, «er setzt sich ein, gibt Leihgaben und Schenkungen vertrauensvoll in die öffentliche Hand.» Ein gutes Beispiel, wie Finanzkraft Definitionsmacht teilt, statt sie an sich zu reissen. J. Emil Sennewald → ‹Corps à corps – Histoire(s) de la photographie›, Centre Pompidou, bis 25.3. ↗ centrepompidou.fr 100 <strong>Kunstbulletin</strong> 12/<strong>2023</strong>
Dorothea Lange · Mended Stockings, San Francisco, 1934, Silbergelatine-Abzug, Sammlung Marin Karmitz © The Dorothea Lange Collection, Oakland Museum of California, City of Oakland BESPRECHUNGEN // PARIS 101
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