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2012-04

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ALLE JAHRE WIEDER<br />

Novembernebel lag über der Wetterau. Dort auf dem<br />

flachen Hessenland war er besonders dicht und<br />

hartnäckig. Bis mittags hatte er die Landschaft,<br />

wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, fest im Griff.<br />

Trotzdem, wie jedes Jahr, machte Oma, die in einem der<br />

kleinen Dörfer dort wohnte, sich auf, um für meine Mutter<br />

und mich Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Wir waren ja<br />

ihre Kinder, die grundsätzlich ihre Gleichbehandlung erfuhren.<br />

Durch Kriege und Schicksalsschläge hatte sie sonst<br />

niemanden mehr zu beschenken. Nun lag noch kein Schnee,<br />

die Wege waren noch nicht vereist, deshalb war es höchste<br />

Zeit, sich auf den zwölf Kilometer langen Weg zu begeben.<br />

Es war schon bissig kalt und Oma hatte sich warm<br />

angezogen, Kopftuch und Winterstiefel waren Pflicht. Ihr<br />

Ziel war ein abgelegenes Dorf (Langd), wo ihr Bruder ein<br />

Gemischtwarengeschäft betrieb. Dort gab es fast alles, von<br />

Mehl bis Backpulver, von Schnürsenkeln bis Gardinen.<br />

Unter anderem gehörten auch Unter- und Nachtwäsche zu<br />

diesem bunten Sortiment, aber nur ab Größe 46 aufwärts.<br />

Um unterwegs Rast zu machen, hatte Oma einen Vesperkorb<br />

mit Brot, hausgemachter Blut- und Leberwurst sowie<br />

Schwartenmagen mitgenommen. Auch ihre Thermoskanne<br />

mit Lindes Kaffee durfte nicht fehlen. Ungefähr in der Mitte<br />

ihres beschwerlichen Weges querfeldein stand auf freiem<br />

Feld eine uralte dicke Eiche, unter der sie sich niederließ,<br />

um sich zu stärken. Damals auf dem Lande achtete man<br />

nicht auf Kalorien, man aß deftig und mit Genuss.<br />

So mühsam ihr Weg auch war, für sie war er selbstverständlich,<br />

denn sie unterstützte auch gern ihren Bruder<br />

Richard, der auch seine Geschäfte machen sollte. Endlich<br />

angekommen, war die Freude groß! Und so begann nach<br />

herzlicher Begrüßung das Hauptanliegen, das sorgfältige<br />

Aussuchen der Weihnachtsgeschenke. Natürlich hatte ihr<br />

Bruder Richard wieder die guten Schlafanzüge vorrätig,<br />

bequem und warm sollten sie sein. Oma wählte, wie schon<br />

viele Jahre zuvor, die angerauten Satin-Anzüge aus. Bei den<br />

Farben und Mustern gab es kaum Auswahl und so war es<br />

für Oma leichter, sich zu entscheiden. Meine Mutter bekam<br />

lachsfarbene Rosen und ich konnte mich auf himmelblaue<br />

Lilien freuen! Nun ging es ja nur noch um die Größen, die<br />

für Oma grundsätzlich kein Problem darstellten, da sie ja<br />

sowieso nur die kleinsten Größen kaufte. Ihre Kinder waren<br />

ja so schlank - Größe 38 und Größe 36! Für meine Mutter<br />

nahm sie also Größe 48 und ich bekam Größe 46 verpasst.<br />

Kleinere Größen gab es in diesem Laden eben nicht, das<br />

war so und musste akzeptiert werden! Oma hatte wieder<br />

ihr Bestes gegeben und das von ganzem Herzen! Außerdem<br />

vertrat sie sowieso die Meinung, dass Nachtwäsche locker<br />

getragen werden sollte. So war sie glücklich und zufrieden<br />

mit ihren Weihnachtseinkäufen, blieb noch über Nacht in<br />

ihrem Elternhaus, um sich am nächsten Morgen auf ihren<br />

anstrengenden Heimweg zu begeben. Sie verabschiedete<br />

sich wehmütig von ihrem Bruder bis zum nächsten Jahr.<br />

Allein der Weg von einigen Stunden, den sie gerne auf sich<br />

nahm, war schon sehr anzuerkennen. Sie war ja auch nicht<br />

mehr die Jüngste (circa 70 Jahre)! Zuhause angekommen,<br />

packte sie liebevolle Päckchen mit roten Schleifen.<br />

Meine Mutter und ich freuten uns schon, Oma wie an<br />

allen Feiertagen zu besuchen. Die Zeit eilte, und es wurde<br />

bald Weihnachten. Wir tuckerten also mit dem Bummelzug<br />

in Richtung Gelnhausen. Als wir dann in Gießen umgestiegen<br />

waren, ich war inzwischen ein aufmüpfiger Teenager<br />

geworden, meckerte ich über die zu großen Größen, die<br />

Oma wahrscheinlich wieder gekauft hatte. Meine Mutter<br />

reagierte sofort und ergriff Partei für Oma: „Wag` es nicht,<br />

Geschenke zu monieren und Oma die Freude zu nehmen!<br />

Ich will nichts dergleichen von Dir hören! Ich lasse die<br />

Schlafanzüge von einer Schneiderin abnähen!“ Das hatte<br />

gesessen. Oma durfte also meinen Unmut über die Größen<br />

nicht erfahren! So war ich wieder friedlich und die Meckerei<br />

für immer tabu. Außerdem ließ Oma es sich nicht<br />

nehmen, uns noch einen Umschlag mit Geld zu schenken.<br />

Fast immer war es für jeden 50.-- DM, wovon ich mir den<br />

ersehnten Petticoat kaufen konnte. Das war in den sechziger<br />

Jahren sehr viel Geld, insbesondere für Oma mit ihrer<br />

kleinen Witwenrente. Sie lebte bescheiden und hatte ein<br />

ganzes Jahr dafür gespart. Natürlich hatten wir auch für<br />

Oma Geschenke mitgebracht. Sie bekam wie gewünscht<br />

ihre plattierten Strümpfe und warme Strickhandschuhe, die<br />

es auf dem Land nicht so schön gab.<br />

Eigentlich ging es ja auch gar nicht so sehr um Geschenke,<br />

sondern um das gemütliche Beisammensein. Oma<br />

freute sich auf uns und beim Eintreffen umgab uns eine heimelige,<br />

weihnachtliche Wärme. Der Weihnachtsbaum war<br />

mit seinen bunten Figuren und Kugeln festlich geschmückt<br />

und im ganzen Haus hatte sich ein köstlicher Plätzchenduft<br />

ausgebreitet.<br />

Nachdem zuerst der gute Kartoffelsalat und die Würstchen<br />

verspeist waren und an dem prächtigen Tannenbaum<br />

die Kerzen leuchteten, stimmte Oma die beliebtesten Weihnachtslieder<br />

an. Ihr „Stille Nacht“ rührte uns zu Tränen.<br />

Danach bekam jeder seine Päckchen und die Freude war<br />

wie immer riesig, trotz zu großer Größen!<br />

Es wurde viel erzählt und genascht und so saß man bis<br />

weit über Mitternacht froh zusammen. Beschaulicher konnte<br />

es nicht sein, denn es war Weihnachten! Weihnachten bei<br />

Oma.<br />

Helga Düringer<br />

16 durchblick 4/<strong>2012</strong>

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