2012-04
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Historisches<br />
UNSER ERSTER TAG IN SIEGEN<br />
Eines Tages, es war im Jahr 1946, lief ein langer Güterzug<br />
langsam vor Anstrengung ächzend im Bahnhof<br />
ein. Die großen Schiebetüren der Waggons wurden<br />
geräuschvoll auseinander geschoben. Und: Ordnung<br />
muss ja sein! Ein dunkelblau gekleideter Bahnvorsteher mit<br />
roten Streifen um die Mütze rief laut: „Bitte aussteigen!<br />
Bitte aussteigen! In der Zwischenzeit hatten sich die Augen<br />
der Menschen, die sich im Halbdunkel des Waggoninneren<br />
aufgehalten hatten, an die gleißende Helle außerhalb<br />
des Bahnsteiges gewöhnt, denn es begrüßte sie ein wunderschöner<br />
Sommertag. Frauen und Kinder jeden Alters,<br />
von der Oma bis zur jungen Mutter mit Kleinkind, quollen<br />
aus den Waggons auf den Bahnsteig. Selten befand sich<br />
auch mal ein alter Mann darunter, der für den Volkssturm<br />
nicht mehr getaugt hatte. 30 kg Gepäck pro Person durften<br />
sie mitnehmen. Dieses Gepäck war aber an der Grenze<br />
noch gefilzt worden und manches Kleidungsstück oder die<br />
silbernen Teelöffel, die sie zum Schluss noch eingesteckt<br />
hatten, flogen in hohem Bogen über eine Theke, hinter der<br />
sich bereits ein größerer Berg angehäuft hatte.<br />
Inzwischen waren die Reisenden mit dem Gepäck aus<br />
dem Zug gestiegen und bildeten eine lange Schlange auf<br />
dem Bahnsteig. Gott-sei-Dank war Sommer. Die Menschen<br />
mussten wenigstens nicht frieren, wie die Flüchtlinge aus<br />
Ostpreußen, die schon im bitterkalten Winter 1945 und<br />
Schnee und Eis mit ihren Pferdewagen durch unsere Heimat<br />
gezogen waren.<br />
Mein Bruder, den meine Mutter immer „Peterla“ nannte,<br />
zeigte mit seinem kleinen Finger auf ein schwarzes Emailleschild<br />
mit weißer Schrift, stupste sie an und sagte: „Guck'<br />
mal Muttel, dort ist ein Schild mit dem Namen SIEGEN“!<br />
Sie mutmaßte, dass dies wohl der Name des Bahnhofs sein<br />
müsste. “Na, wenn das kein gutes Omen ist„ , stellte sie fest!<br />
„Vielleicht ist hier ja Endstation?“ Nachdem wir nun eine<br />
Woche im Güterzug unterwegs gewesen waren und zwei<br />
Durchgangslager passiert hatten, waren wir aber mit an-<br />
Foto: Archiv Flender<br />
deren im Treck herumstehenden Nachbarn der einhelligen<br />
Meinung, dass wir noch nie von einem Ort mit dem Namen<br />
Siegen gehört hatten.<br />
„Wie auch immer“, sagte sie, „seht Euch die Leute vor uns<br />
und hinter uns im Treck an: Die Gläsers, die Tilchs, die Heinzes,<br />
die Herbsts, die Erkmanns, die Ilchmanns, die Krauses,<br />
Knoblichs und Neumanns, die Albrechts, die Bartschs und<br />
die Opitzs sowie die Grimmigs, die Geislers und Schindlers,<br />
auch die Jenschs, Wittwers und Exners. Es sind alles die vertrauten<br />
Gesichter unserer Nachbarn. Wir sind nicht allein!“<br />
Nach längerem Warten hatte sich der Treck in Bewegung<br />
gesetzt. Da zur damaligen Zeit die Hufeisenbrücke dem<br />
großen Bombenangriff am 16. 12. 44 auf Siegen zum Opfer<br />
gefallen war, hatten die Behörden eine Straße direkt über die<br />
Gleise asphaltiert. Der Treck zog also den Bahnsteig entlang,<br />
dann ein Stück nach links – vorbei am Hammer-Bäcker und<br />
am Gebäude des Zahnarztes Dr. Feische – in die Freudenberger<br />
Straße , danach nach rechts die Anhöhe der Wellersbergstraße<br />
hinauf. Es war heiß, das Gepäck auf einmal so<br />
schwer.Als wir in der Wellersberg- Kaserne ankamen, waren<br />
wir müde und erschöpft, und Hunger und Durst plagten uns.<br />
Aber es musste noch eine letzte Pflicht erfüllt werden, die<br />
Entlausung. Wir stellten uns in einer Reihe auf. Dann kamen<br />
Helfer mit einer Art Spritze, die Pulver ausschied. Dieses<br />
wurde in den Kragen, unter die Röcke und in die Ärmel gepustet.<br />
Es war die dritte und hoffentlich letzte Entlausung.<br />
Anschließend gingen wir in eineArt Speiseraum. Dort gab es<br />
eine Scheibe Kommissbrot, einen kleinen Würfel Margarine<br />
und einen Becher Muckefuck. Danach wurden wir auf die<br />
vorhandenen Soldatenstuben verteilt. In unserer Stube standen<br />
zwei Doppelstockbetten. Wir verstauten unser Gepäck<br />
in einer Ecke und legten uns angezogen auf die Matratzen.<br />
Im Hinüberdämmern sahen wir noch, wie eine alte Dame<br />
hereingeführt wurde und das 4. Bett belegte. Dann umfing<br />
uns der tiefe Schlaf der Erschöpfung. Und wir träumten von<br />
Daheim. Würden wir unseren Opa und die beiden Omas jemals<br />
wiedersehen? Sie wussten doch nicht, wohin man uns<br />
bringen würde.<br />
Die beiden Omas hatten noch zum Schluss ein Federbett<br />
zu einer Rolle zusammengeschnürt und zwei Kilometer den<br />
Bahndamm entlang zum Güterzug getragen, es geschafft,<br />
diese Rolle an unseren Waggon zu bringen. Sie hat uns dann<br />
unterwegs gute Dienste geleistet und als Sitz- oder Schlafplatz<br />
zur Verfügung gestanden.<br />
Dies war unser erster Tag in Siegen. Vielleicht würden<br />
wir hier bleiben können und Siegen unsere neue Heimat werden.<br />
Und vielleicht werden wir am Ende unserer Tage hier<br />
auch begraben werden und Spuren hinterlassen. Die Gräber<br />
unserer Vorfahren gibt es ja nicht mehr. Und die der Familienangehörigen<br />
und ehemaligen Nachbarn sind in alle Winde<br />
verstreut.<br />
Else von Schmidtsdorf<br />
durchblick 4/<strong>2012</strong> 27