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2012-04

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Historisches<br />

WEIHNACHTSGESCHICHTE<br />

Der Lärm der Schlacht war verebbt. Nur in der Entfernung<br />

waren noch vereinzelte Schüsse zu hören,<br />

kleine Waffen, deren Geräusche sich wie verirrt<br />

anhörten, wie unabsichtlich, versehentlich ausgelöst, ungefährlich.<br />

Der Mond leuchtete kalt vom klaren Himmel und<br />

ließ die Ruinen auf der anderen Seite in den dunklen Schatten<br />

verschwinden. Von irgendwo klang dünn das atmosphärische<br />

Gezirpe aus einem Apparat, ließ die Männer am<br />

Maschinengewehr aufhorchen und wieder in die Deckung<br />

zurücksinken, als sie keine Bewegungen ausmachen konnten.<br />

Aber sie wussten, dass der Feind nahe war. Die Kälte<br />

kroch ihnen<br />

in die Glieder.<br />

Sehnsüchtig<br />

warteten sie<br />

auf die Ablösung,<br />

um mit<br />

der erbärmlichen<br />

Wassersuppe<br />

die<br />

letzten Reste<br />

der Verpflegung<br />

aufzuzehren<br />

und<br />

wenigstens<br />

für kurze Zeit<br />

etwasWarmes<br />

zu sich zu<br />

nehmen, in<br />

kurzen, unruhigen<br />

Schlaf<br />

zu fallen, aus<br />

dem sie vielleicht<br />

nicht<br />

mehr erwachten, wie viele Kameraden, die schon an Entkräftung,<br />

Krankheiten, Verletzungen und Selbstmord gestorben<br />

waren. Die bärtigen Gesichter mit den halb erloschenen<br />

Augen fragten nicht mehr nach einem Sinn, seit<br />

bekannt war, dass mit Entsatz nicht mehr gerechnet werden<br />

konnte. Sie schossen, wenn sich etwas auf der anderen Seite<br />

regte und warteten. Sie warteten und schossen und beneideten<br />

die Kameraden, die schon unter einer Kugel liegen<br />

geblieben waren.<br />

Fast friedlich stand das Dunkel um sie herum, dort, wo<br />

die Mauern der alten Fabrik-Ruine drei Stockwerke hoch<br />

aufragten und die leeren Fensterhöhlen der angrenzenden<br />

zerschossenen Wohngebäude die Dunkelheit noch zu vertiefen<br />

suchten. Schutt lag auf der freien Fläche, bildete<br />

einen kleinen Hügel, der sich heller vom Hintergrund abhob<br />

und die gegenseitigen Schussbahnen behinderte. Ringsum<br />

lagen zerschossener Hausrat, zerbrochene Möbelstücke,<br />

von Kugeln zerfetzte Matratzen, die sich jetzt im Mondlicht,<br />

das zwischen den Gebäuden hereinbrach, wie unförmige<br />

Kadaver aufblähten.<br />

Von links und rechts aus den Häusern, wo die Kameraden<br />

lagen, kam kein Laut. Auch von drüben war nichts zu hören<br />

und zu sehn. Was für ein Tag war heute? Die Zeitrechnung<br />

hatteschonlangekeineBedeutungmehr.AberesmussteEnde<br />

Dezember sein. Die Ruhe war dunkel wie die Schatten ringsum,<br />

unwirklich, gespenstisch nach dem Bersten der Granaten,<br />

dem heftigen Geknatter der Maschinenpistolen, dem Krachen<br />

der Handgranaten und dem bösen Sirren der Gewehrkugeln.<br />

Wochenlang.<br />

Heile Welt<br />

von Hans Basekow<br />

Ist jene „Heile Welt“ achtlos an Dir vorbeigegangen,<br />

verzeih ihr, denn sie hat Dich nicht gesehen, nicht gehört.<br />

Du hättest rufen, hättest schreien sollen,<br />

Du warst in Deinem Unglück zu befangen,<br />

die „Heile Welt“ wird nur dem Glücklichen beschert.<br />

Und nun diese<br />

nervenzerfetzende<br />

Ruhe.<br />

Kein Laut,<br />

als gehöre es<br />

sich nicht,<br />

das fließende<br />

Licht zu unterbrechen<br />

oder das mystische<br />

Dunkel<br />

zu stören.<br />

Plötzlich<br />

war da ein<br />

Laut, der die<br />

Männer aufhorchen<br />

ließ,<br />

ein feiner<br />

Laut, seitlich<br />

vom Hügel<br />

her, anders,<br />

ungewohnt,<br />

kein Laut, der die Nerven noch mehr belasten konnte, zart,<br />

weich, schmeichelnd und nun ein zweiter, höher, und ein<br />

dritter, und dann probierend, zaghaft eine Tonleiter, spielerisch<br />

hinauf und hinab, kräftiger werdend und dann die ersten<br />

Töne einer Melodie, abgebrochen, neu einsetzend und<br />

dann kamen die vollen Töne. Dona nobis pacem, verhalten<br />

erst, dann klar und voller Inbrunst, die sich den Männern<br />

mitteilte, in immer neuen Variationen. Bewegung entstand,<br />

Schatten fügten sich zusammen und verharrten und dann<br />

kam eine neue Melodie, und plötzlich rauschten Stimmen<br />

auf, voller Sehnsucht und Bewegtheit, zittrig zuerst, dann<br />

gefasst und voller Klarheit: Stille Nacht, heilige Nacht, und<br />

die Schatten lagen sich in den Armen, bärtige, schmutzige,<br />

wildfremde Männer umarmten sich und auch Männer mit<br />

Pelzmützen und rotem Stern daran, stumm, bewegt und ergriffen<br />

und in ihrer anklagenden Stummheit lag der Friede<br />

der Welt.<br />

Johannes Buhl<br />

Foto: Fotolia. de<br />

20 durchblick 4/<strong>2012</strong>

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