Wer nicht spurt, kriegt kein Geld - HARTZ IV Betroffene eV
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72<br />
ein sanfter Schubs wäre zu überlegen – in bestimmten<br />
Fällen.“<br />
Wie dieser „sanfte Schubs“ aussehen könnte,<br />
bleibt offen. Im Beratungsalltag bleibt <strong>kein</strong>e Zeit<br />
für solche Überlegungen. Der Berater aus Nr. 15,<br />
der seit langem und beinahe täglich Beratungsarbeit<br />
macht, bedauert „wegen der enorm angestiegenen<br />
Zahl von Beratungsfällen inzwischen<br />
ganz im Beratungsdenken, im ‚systemimmanenten’<br />
Denken versunken zu sein, wo ein Nachdenken<br />
über Grundsätzliches, zum Beispiel über<br />
die Vereinbarkeit von Sanktionen und Sozialstaat,<br />
<strong>nicht</strong> mehr stattfindet und <strong>nicht</strong> mehr<br />
möglich ist.“<br />
* * *<br />
Für ein Nachdenken über Grundsätzliches muß<br />
Raum geschaffen werden – zuallererst auf politischer<br />
Ebene wie auch in den JobCentern und<br />
ARGEN. Raum und Zeit, die benötigt wird für<br />
ein Wahrnehmen, Registrieren und Aufarbeiten<br />
all der beschriebenen Mängel, der chaotischen<br />
bzw. ungeregelten Zustände und der rechtswidrigen<br />
Praktiken in den JobCentern. Zeit, die auch<br />
benötigt wird für ein Nachdenken und eine öffentliche<br />
Auseinandersetzung über eine ernst<br />
gemeinte Förder- und Arbeitsmarktpolitik.<br />
Was sich offenkundig <strong>nicht</strong> bewährt, sondern<br />
schwerwiegende Folgen für die <strong>Betroffene</strong>n und<br />
unabsehbare gesellschaftliche Wirkungen hat,<br />
kann <strong>nicht</strong> einfach fortgesetzt werden.<br />
Diese Zeit muß gewonnen werden durch ein<br />
Aussetzen des Sanktionsparagraphen!<br />
* * *<br />
5.4 Resümee<br />
Betrachten wir die Ergebnisse aus unseren Befragungen,<br />
so fällt zunächst zweierlei auf: Sanktionen<br />
bzw. Sanktionsandrohungen beeinträchtigen<br />
in gravierender Weise den Alltag und die<br />
Lebensmöglichkeiten der <strong>Betroffene</strong>n und ihrer<br />
Familien. Zu den Erfahrungen gehört die Ohnmachtserfahrung,<br />
daß Einwände <strong>nicht</strong> ernst genommen<br />
werden oder gar <strong>nicht</strong> erst zu den Job-<br />
Center-MitarbeiterInnen vorgedrungen werden<br />
kann. Dazu gehört die Erfahrung extremen Mangels,<br />
z. B. wenn das <strong>Geld</strong> <strong>nicht</strong> mehr für Medikamente<br />
oder Dinge des täglichen Bedarfs reicht<br />
und massive Einschränkungen, etwa nach<br />
Stromabschaltungen. Dazu gehört die Angst davor,<br />
hungern zu müssen oder die Wohnung zu<br />
verlieren.<br />
Gleichzeitig – das ist die zweite Auffälligkeit –<br />
suchen nur sehr wenige Sanktionierte oder von<br />
einer Sanktion Bedrohte eine Beratungsstelle<br />
auf. 159 Viele sind schlicht überfordert, „tauchen<br />
ab“, „igeln sich ein“. 160<br />
Was wird aus all jenen, die <strong>kein</strong>e Beratung<br />
aufsuchen, die sich <strong>kein</strong>e Unterstützung organisieren?<br />
Alg-II-Beziehende stehen oft dem Wust an<br />
Vorschriften, Paragraphen und unverständlichen<br />
JobCenter-Schreiben hilflos gegenüber, viele haben<br />
<strong>nicht</strong> die Kenntnisse, um Rechtsverstöße als<br />
solche zu erkennen. Wir vermuten, daß in vielen<br />
Fällen eine Sanktion abgewehrt werden könnte,<br />
wenn die Betreffenden professionelle Hilfe<br />
wahrnehmen würden; immerhin sind ja 35 % der<br />
159 Diesem Problem könnte z. B. durch ergänzende Angebote<br />
der „aufsuchenden Unterstützung und Beratung“<br />
Rechnung getragen werden. Die Aktion des Berliner<br />
BALZ (Berliner Arbeitslosenzentrum evangelischer Kirchenkreise<br />
in Berlin e.V.), Alg-II-Beziehende mit einem<br />
Beratungsbus direkt vor den 12 Berliner JobCentern aufzusuchen,<br />
weist hier einen Weg. Mehr zu der sechswöchigen<br />
Aktion, die unter dem Motto „Irren ist amtlich –<br />
Beratung kann helfen“ in diesem Jahr zum zweiten Mal<br />
durchgeführt wurde, unter: www.berliner-arbeitslosenzentrum.de/<br />
160 So die BeraterInnen – es erinnert an ein Phänomen, das<br />
auch aus anderen Beratungsfeldern bekannt ist: diejenigen,<br />
die Beratung und Unterstützung am nötigsten brauchen,<br />
kommen <strong>nicht</strong> oder kommen zu spät.<br />
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