Wer nicht spurt, kriegt kein Geld - HARTZ IV Betroffene eV
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80<br />
ist eng mit der Vorstellung verknüpft, daß Erwerbslose<br />
ihre Situation selbst verschuldet haben.<br />
Gefragt wird <strong>nicht</strong> nach den tatsächlichen<br />
Ursachen der Arbeitslosigkeit.<br />
Wolfgang Spellbrink, seines Zeichens Richter<br />
am Bundessozialgericht in Kassel, hat auf die<br />
verlogene Moral der Vertreter eines „aktivierenden<br />
Sozialstaats“ hingewiesen, die sich in deren<br />
offenkundiger Handlungsdevise „blame the victim“<br />
(beschuldige das Opfer) ausdrücke. 180 Er<br />
fragt: „Wieso ist der Versicherungsfall<br />
der Arbeitslosigkeit<br />
wie <strong>kein</strong> anderer<br />
des Sozialversicherungssystems<br />
(Krankheit,<br />
Erwerbsunfähigkeit) mit dem<br />
moralischen Makel der<br />
Selbstverschuldetheit und<br />
deren Sanktionierung durch Sperrzeiten etc. behaftet?“<br />
Und: „Wieso akzeptiert die Gesellschaft<br />
fraglos die Behandlungskosten des Lungenkrebses<br />
des Kettenrauchers, ist aber andererseits bereit,<br />
den Arbeitslosen als moralisch zu verurteilenden<br />
Verursacher seines Schicksals auszumachen?“<br />
181<br />
Wie kurzsichtig die verbreitete Haltung des<br />
„blame the victim“ ist, müßte angesichts der gesamtgesellschaftlichen<br />
Folgen des Hartz-<strong>IV</strong>-<br />
Sanktionsregimes erkennbar sein. Die skizzierten<br />
Folgen von Sanktionen betreffen <strong>nicht</strong> nur wenige<br />
Erwerbslose. Sie sind geeignet, das soziale<br />
Klima in allen gesellschaftlichen Bereichen<br />
nachhaltig zu verändern. Daß das mit Hartz <strong>IV</strong><br />
verbundene Bedrohungsszenario weitreichende<br />
Wirkungen auf das Gefüge und die Verfaßtheit<br />
der Gesellschaft hat, kommt überall längst zum<br />
Tragen; wesentliche Punkte haben wir in der<br />
Einführung angedeutet. Jedoch, dies scheint<br />
kaum jemand wahrzunehmen oder wahrnehmen<br />
zu wollen. Vielleicht wird die Wahrnehmung<br />
auch dadurch erschwert, daß die Sanktionsproblematik<br />
komplex und kompliziert zugleich ist<br />
und für <strong>nicht</strong> unmittelbar <strong>Betroffene</strong> ihre perfiden<br />
Wirkungen nur allmählich entfaltet.<br />
180 Wolfgang Spellbrink (2005): Die Vorschläge der Hartz-<br />
Kommission – 3 Jahre danach, in: info also, Informationen<br />
zum Arbeitlosenrecht und Sozialhilferecht, 5/2005,<br />
S. 195-204 (Vortragsmanuskript vom 1.9.2005)<br />
181 Ebd.<br />
Sanktionen binden Zeit und Energie, sie aktivieren,<br />
aber es ist eine „Hamsterrad-Aktivität“<br />
Sanktionen sollen aktivieren – tatsächlich können<br />
sie aber in Panik versetzen oder lähmen.<br />
Schon die allgegenwärtige, <strong>nicht</strong> konkrete Sanktionsdrohung<br />
hat – wie in Kapitel 5.2 zu sehen<br />
war – erschreckende Wirkungen. Wird ein Familienmitglied<br />
sanktioniert, berührt dies die Lebensbedingungen<br />
der ganzen Familie („Sippen-<br />
„Wut, Empörung, Protestschreiben.<br />
Andere Pläne für den Alltag<br />
kann ich <strong>nicht</strong> durchführen, Warten<br />
auf das Ergebnis des Widerspruchs.“<br />
(aus den Fragebögen)<br />
haft“).<br />
Sanktionen binden Zeit<br />
und Energie, die für<br />
sinnvolle Aktivitäten und<br />
Eigenbemühungen gebraucht<br />
würden. Sie drängen<br />
viele in eine hektische<br />
Suche nach<br />
Auswegen raus aus Hartz <strong>IV</strong>, Auswege, die sich<br />
längerfristig als Irrwege entpuppen können. Sie<br />
lösen eine hektische Aktivität aus, die möglicherweise<br />
nach kurzer Zeit wieder in Hartz <strong>IV</strong><br />
führt. Es wird Aktivität erzwungen, eine „Hamsterrad-Aktivität“.<br />
Erwerbslose stärken statt mit Sanktionen<br />
schwächen!<br />
Dabei müßten viele Erwerbslose – wie in dem<br />
Beitrag von Rosmarie Jäger deutlich geworden<br />
ist – eigentlich „aufgepäppelt“ werden: der Verlust<br />
des Arbeitsplatzes muß verkraftet werden<br />
oder die Enttäuschungen der vergeblichen Stellensuche.<br />
Andere tragen noch die Belastungen<br />
der Arbeit in sich: Mobbing, Überarbeitung.<br />
Auch wer <strong>kein</strong>e Arbeit findet, weil er schon in<br />
der Schule gescheitert ist, bräuchte eine einfühlsame,<br />
jedenfalls angemessene Betreuung und<br />
Förderung. Die Bewältigung solcher Erfahrungen<br />
kostet Kraft.<br />
In der Forderung der BeraterInnen nach mehr<br />
<strong>Wer</strong>tschätzung und mehr Orientierung am Individuum<br />
kommt zum Ausdruck, daß es eines generellen<br />
Umdenkens bedarf – weg von der ausschließlich<br />
am ökonomischen Kalkül ausgerichteten<br />
Arbeitsmarkt“politik“ hin zu einer Förderpolitik,<br />
die an den Kenntnissen und der Motivation<br />
von Erwerbslosen und am gesellschaftlichen<br />
Bedarf orientiert ist. Gebraucht wird eine Arbeitsmarktpolitik,<br />
die das Stärken betont und das<br />
Schwächen durch Sanktionen einstellt.<br />
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