Wer nicht spurt, kriegt kein Geld - HARTZ IV Betroffene eV
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76<br />
die Folgen. Die Beschäftigten sind nur scheinbar<br />
entlastet, und die betreffenden Alg-II-Beziehenden<br />
arbeiten sich am JobCenter ab, statt Wichtigerem<br />
nachgehen zu können.<br />
Macht und Ohnmacht<br />
Kann bei den beschriebenen Sachverhalten<br />
oder Zuständen tatsächlich nur von „gestörter“<br />
Kommunikation gesprochen werden oder von<br />
schlecht organisierten Kommunikationswegen?<br />
Sind dies „nur“ Mängel, die – so wird oft argumentiert<br />
– immer zu einem großen Verwaltungsapparat<br />
gehören? Oder kommt in der Kommunikation<br />
und in der Behandlung der „Kunden“<br />
<strong>nicht</strong> vielmehr (auch) das Machtgefälle zwischen<br />
JobCenter und „Kunden“ zum Ausdruck? In den<br />
Antwortbögen, in den Schilderungen der Porträtierten<br />
und auch in den Antworten der BeraterInnen<br />
wurde immer wieder die unwürdige Behandlung<br />
im JobCenter angesprochen. Im Sanktionsfall<br />
werden wichtige Gründe (z.B. Krankheit,<br />
inakzeptable Arbeit) <strong>nicht</strong> ernst genommen.<br />
Erinnert sei hier an Herrn Bärmann, dessen Behandlung<br />
im JobCenter gerade deshalb erschreckend<br />
ist, weil der ihm zugewiesene Arbeitsvermittler<br />
ausgerechnet für Schwerbehinderte zuständig<br />
ist. Erinnert sei auch an die Porträts von<br />
Florian Schäfer und seinen Eltern.<br />
Die Art, wie in den genannten Fällen mit Menschen<br />
umgegangen wird, die – je nach Perspektive<br />
– das Pech oder das Glück haben, trotz<br />
Krankheit mehr als drei Stunden täglich erwerbstätig<br />
sein zu können 168 , ist ein besonders<br />
perfides Beispiel gestörter, treffender: einer von<br />
Macht und Ohnmacht geprägten Kommunikation.<br />
169 Man treibt die Menschen in die Verzweiflung,<br />
sie werden noch kränker, als sie bereits<br />
sind.<br />
Einen „wichtigen Grund“ hätte auch Verena<br />
Storm gehabt, als sie die Belastungen der Prostituiertentätigkeit<br />
<strong>nicht</strong> mehr aushielt. Angesichts<br />
der Drohung einer 30%igen Kürzung unterschrieb<br />
sie die Eingliederungsvereinbarung, mit<br />
168 Dies ist eine der Voraussetzungen für den Bezug von<br />
Alg II; in die Grundsicherung nach SGB XII (Grundsicherung<br />
im Alter und bei Erwerbsminderung) kommt,<br />
wer <strong>nicht</strong> einmal drei Stunden am Tag arbeiten kann.<br />
169 Siehe auch die Ausführungen mancher Berater in Kap.<br />
5.3.<br />
der ihr die Fortsetzung der als „sittenwidrig“ anerkannten<br />
Arbeit auferlegt wurde.<br />
Am Thema Krankheit wird zudem deutlich,<br />
wie durch die Behandlung im JobCenter Persönlichkeitsrechte<br />
wie das Selbstbestimmungsrecht,<br />
das Recht auf körperliche Unversehrtheit und<br />
Datenschutzrechte, wenn etwa der Arzt von der<br />
Schweigepflicht entbunden werden soll, beschnitten<br />
werden. 170<br />
Daß Macht und Ohnmacht hier höchst ungleich<br />
verteilt sind, dürfte nachvollziehbar geworden<br />
sein. Der Mensch wird zum Objekt der Behörde.<br />
Verkommt da <strong>nicht</strong> der Satz, daß der Staat die<br />
Würde des Menschen zu achten und zu schützen<br />
habe (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz; Bundesverfassungsgericht<br />
1977 171 ), zur hohlen Phrase?<br />
Macht und Ohnmacht kennzeichnen auch die<br />
Themen Eingliederungsvereinbarung und Eigenbemühungen.<br />
Eigenbemühungen werden behindert<br />
Die Erfahrung, daß konkrete eigene Vorschläge<br />
vom JobCenter torpediert werden, haben<br />
mehrere unserer Gesprächspartner gemacht (Samuel<br />
Just, Sadi Bozkurt, Verena Storm).<br />
Eigenbemühungen und konkrete eigene Vorstellungen<br />
dazu, welche Fortbildung oder Umschulung,<br />
welche Schritte für eine Integration<br />
hilfreich sein könnten, haben im JobCenter häufig<br />
selbst dann <strong>kein</strong>en Platz, wenn die Betreffenden<br />
ihr Fortkommen tatkräftig in die Hand nehmen.<br />
Dies ist u.a. Folge der Ausrichtung an möglichst<br />
schneller Vermittlung, egal wohin – selbst<br />
um den Preis, daß die so aus der Statistik heraus<br />
170 Ob es sich dabei nur um Einzelfälle handelt, wäre erst<br />
auf der Grundlage einer größeren repräsentativen Studie<br />
zu beurteilen.<br />
171 In dem Bundesverfassungsgerichtsurteil heißt es: „(…)<br />
Die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde<br />
stellen den höchsten Rechtswert innerhalb der verfassungsmäßigen<br />
Ordnung dar (…) Dem liegt die Vorstellung<br />
vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen<br />
zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst<br />
zu bestimmen und sich zu entfalten. (…) Es widerspricht<br />
daher der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen<br />
Objekt im Staate zu machen.“ BVerfG-Urteil v.<br />
21.06.1977, 1 BvL 14/76, Rand-Nr. 143-144; BVerfGE<br />
45, 187; http://www.hartzkampagne.de/urteile/43.htm<br />
mit Verweisen auf BVerfGE 6, 32 (41); 27, 1 (6); 30,<br />
173 (193); 32, 98 (108)<br />
Online-Version 2 www.hartzkampagne.de