JAHR BUCH - Führungsakademie Baden-Württemberg - BW21
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DR. BRIGITTE JOGGERST<br />
Bericht aus dem Auslandspraktikum in Istanbul<br />
Ich bin nach Istanbul gekommen, um das<br />
türkische Gesundheitssystem kennen zu lernen;<br />
um zu verstehen, wie Menschen hier<br />
Gesundheit und Medizin sehen und was sie<br />
erwarten. Und vor allem, wie Menschen verschiedenster<br />
sozialer Schichten erreicht werden<br />
können. Meine Hoffnung ist, mit diesen<br />
Erfahrungen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund<br />
besser verstehen und<br />
innerhalb des öffentlichen Gesundheitssystems<br />
besser erreichen und versorgen zu<br />
können.<br />
Das medizinische System in der Türkei ist in<br />
einer kompletten Umstellung begriffen. Bisher<br />
sind Patienten direkt in die Notaufnahme<br />
eines Krankenhauses gekommen, wenn sie<br />
sich krank fühlten, egal wie krank. Seit einem<br />
Jahr gibt es in jedem Wohnbezirk der Türkei<br />
je nach Größe einen oder mehrere Hausärzte,<br />
die alle vom Gesundheitsministerium<br />
angestellt und bezahlt sind. Der Zugang zu<br />
Kliniken wurden geändert, Bezahlungsschemata<br />
auf bonusbasierte Bezahlung umgestellt,<br />
das Notfallsystem erneuert und vieles<br />
andere mehr. So treffe ich allenthalben auf<br />
Neuerungen und auf die Frage: Willst Du<br />
wissen, wie es bisher war oder willst Du<br />
wissen, wie es sein wird?<br />
Ich habe in zwei verschiedenen Notaufnahmen<br />
hospitiert. Beide haben mich stark an<br />
meine Arbeit in Deutschland erinnert. Der<br />
fachliche Standard ist hoch, die menschlichen<br />
Probleme und der Umgang damit den<br />
unseren sehr ähnlich: „Mal wieder ein junger<br />
Mann mit Brustschmerzen. Er wird Beziehungsprobleme<br />
haben.” Etwas unterschiedlich<br />
ist der Umgang mit Zeit und der Umgang<br />
mit Regeln, die als überflüssig beurteilt werden:<br />
„Wenn daran keiner Schaden nimmt,<br />
dann mache ich mir das nicht zum Problem.”<br />
Die türkische Bürokratie steht der deutschen<br />
in nichts nach, ist vielleicht sogar etwas<br />
ausgeprägter. So locker die Verkehrsregeln<br />
genommen werden, so streng wird darauf<br />
geachtet, dass die Unterschriften alle und<br />
in der richtigen Reihenfolge auf ein Papier<br />
gelangen. So würde der Chefarzt nie unterschreiben,<br />
wenn sein Oberarzt bereits eine<br />
Signatur auf das Dokument gesetzt hat.<br />
Offiziell muss ich beim Gesundheitsministerium<br />
der Republik eine Erlaubnis beantragen,<br />
wenn ich im lokalen Gesundheitsamt<br />
mit jemandem sprechen will. Aber über eine<br />
Bekannte komme ich direkt in das Büro des<br />
Leiters einer lokalen Gesundheitsabteilung,<br />
zuständig für knapp 150 ärzte im Stadtbezirk,<br />
und bekomme nicht nur viele Informationen<br />
zur Umstellung des Systems, zu den<br />
Schwierigkeiten und den Erfolgsfaktoren,<br />
sondern auch alle 20 Minuten einen frischen<br />
Tee, den ein Hausbote immer wieder erneuert,<br />
sobald er trinkbare Temperaturen angenommen<br />
hat.<br />
Ich bekomme eine leise Vorstellung davon,<br />
wie viel von dem, was auf dem ministeriellen<br />
Papier steht, tatsächlich umgesetzt wird.<br />
Das macht offizielle Statistiken, wie auch in<br />
Deutschland, sehr schwer interpretierbar.<br />
Mein Standort ist eine neu gegründete private<br />
Uni, die Bilim-Universität. „Bilim” bedeutet<br />
„Wissen, Wissenschaft”. Die Uni ist klein,<br />
es gibt lediglich drei Fakultäten: Eine für Me-<br />
dizin, eine für medizinische Hilfsberufe und<br />
eine für Psychologie. Ich bin der Dozentin für<br />
öffentliches Gesundheitswesen zugeordnet.<br />
Der Schwerpunkt der Uni liegt auf der klinischen<br />
Ausbildung und Forschung, hier insbesondere<br />
der Kardiologie.<br />
Ich wohne in Asien und hospitiere in Europa,<br />
wechsle also zweimal täglich den Kontinent.<br />
Das gibt mir die Möglichkeit, Europa einmal<br />
ganz unvoreingenommen von außen, fast<br />
von einer Meta-Ebene aus, zu betrachten.<br />
Dabei fallen zuerst die zahlreichen Moscheen<br />
auf, deren Minarette in Europa in den<br />
Himmel ragen. Dann die zahlreichen, wie<br />
Wespennester an den steilen Hang geklebten<br />
Häuser und die vielen, vielen, vielen jungen<br />
Menschen. Sollte ich mir bisher tatsächlich<br />
ein so anderes, ja womöglich falsches<br />
Bild von meiner Heimat gemacht haben?<br />
Müssen wir umdenken?<br />
Zur Einstimmung auf diese Überlegungen<br />
hier meine Beobachtungen aus der Stadt,<br />
in der sich Asien und Europa immer näher<br />
kommen, mit einer Geschwindigkeit von ca.<br />
4 cm/Jahr.<br />
Es ist tatsächlich ganz anders in Istanbul als<br />
in allen anderen Städten, in denen ich bisher<br />
war. Auch europäisch, stellenweise amerikanisch,<br />
aber eben auch so, wie ich mir orientalisch<br />
vorstelle. Vor allem das Stadtbild<br />
mit den Moscheen und Palästen, die Märkte,<br />
der Basar. Aber auch wie Menschen auf<br />
mich zukommen und mich ansprechen, kennenlernen<br />
wollen und mir etwas verkaufen<br />
wollen, während ich gerade versuche, die<br />
Architektur der Hagia Sophia zu erfassen. In<br />
der Straßenbahn versucht meine verschleierte<br />
Nachbarin erst mal heraus zu bekommen,<br />
ob ich verheiratet bin; sie ist deutlich<br />
erleichtert, als ich (in ihren Augen wohl halb-<br />
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