JAHR BUCH - Führungsakademie Baden-Württemberg - BW21
JAHR BUCH - Führungsakademie Baden-Württemberg - BW21
JAHR BUCH - Führungsakademie Baden-Württemberg - BW21
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
nackt) bejahe. Wir bekommen heraus, dass<br />
wir beide Kinder haben, da lächelt sie sogar;<br />
als sie erzählt, dass ihre Tochter leider Krebs<br />
hat, weiß ich nicht mehr weiter. Ist vielleicht<br />
auch nicht nötig, sie erzählt auch, ohne dass<br />
ich was verstehe.<br />
Es scheint den Menschen hier unmöglich<br />
neben jemand Fremdem zu sein und so<br />
muss rasch eine Verbindung hergestellt<br />
werden. Die kann dann auch als Beweis der<br />
freundlichen Gesinnung dienen. Meine erste<br />
SIM-Karte hatte einen extrem schlechten<br />
Tarif für Telefonate nach Deutschland. Das<br />
ließ sich am Tag nach dem Kauf nicht mehr<br />
ändern. Ich war sauer, und so versuchte der<br />
Verkäufer mich wortreich davon zu überzeugen,<br />
dass er, weil eine Tante in Deutschland<br />
wohne, die Deutschen sehr möge und es<br />
ihm ganz entsetzlich leid tue, dass mir als so<br />
geliebter Deutscher ein so schlechter Tarif<br />
verkauft worden sei. Eine Argumentationskette,<br />
die mit Logik nicht zu knacken ist.<br />
Was wir auch als Touristen schon bemerken,<br />
ist der Stolz der Menschen hier. Wir wurden<br />
am Abend alle fünf Meter (der Abstand, den<br />
ein Restaurant hier vom anderen hat) angesprochen,<br />
ob wir nicht essen wollten. Ein<br />
„nein” wurde als Antwort nicht akzeptiert,<br />
wohl aber ein „morgen” , das auch oft hilfreich<br />
angeboten wurde. Und so haben wir<br />
in unzähligen Istanbuler Restaurants Verabredungen<br />
für die nächsten Tage, sind quasi<br />
stadtbekannt und überall gerne gesehen.<br />
Auch erstaunlich ist die Hilfsbereitschaft, die<br />
man bei der rücksichtslos drängelnden Masse<br />
so gar nicht vermuten würde. Einen Wer-<br />
ber für eine besonders schöne und günstige<br />
Bosporustour haben wir gefragt, wo denn<br />
die Abfahrtstation der Konkurrenz sei, und er<br />
hat uns freundlich und ausführlich den Weg<br />
erklärt. Andererseits schaffen die Menschen<br />
es hier, sich in Eingängen z.B. in die U-Bahn<br />
durch Drängeln so zu verlangsamen, dass<br />
nicht selten ein kompletter Stillstand entsteht.<br />
Das Zusammensein hat in der Türkei eine<br />
wesentlich höhere Bedeutung und einen<br />
Wert an sich. Mein Vermieter fährt selten<br />
vor halb zehn zur Arbeit. Da er in einem eigenen<br />
Familienunternehmen mit Vater und<br />
Brüdern arbeitet, nimmt er oft seine Frau<br />
mit, die dann mit Schwiegermutter, Schwägerinnen<br />
und Cousinen plaudert. An einem<br />
Morgen nimmt er mich mit, weil ich in der<br />
Nähe seines Arbeitsplatzes ein Gespräch mit<br />
einem Psychiatrieprofessor habe. Auf dem<br />
Weg halten wir erst mal vor der Wohnung<br />
der Schwester, mit der er sich aus dem Auto<br />
mit laufendem Motor heraus in den dritten<br />
Stock unterhält. Dann geht es weiter zur<br />
Schwägerin, die bereits eine Cousine und<br />
eine weitere Schwägerin zu Besuch hat und<br />
uns ein großes zweites Frühstück serviert<br />
sowie uns freundlich nach unseren letzten<br />
Erlebnissen fragt. Seine Brüder, so versichert<br />
mir der Vermieter, arbeiten schon seit 7<br />
Uhr. Was ihn nicht besonders unter Druck zu<br />
setzen scheint. Zeitkonzepte, haben wir gelernt,<br />
variieren in Abhängigkeit von der Kultur.<br />
Damit auch viele andere Konzepte. Ob<br />
bei den Verhandlungen zur Einführung des<br />
Euro irgendein Kulturwissenschaftler dabei<br />
war? Vermutlich nicht, nur Banker, und damit<br />
wird alles klar.<br />
Der Wunsch nach Gemeinsamkeit findet<br />
auch in der Gestaltung von Moscheen seinen<br />
Ausdruck. Im Gegensatz zu den in der<br />
christlichen Hochkultur entstandenen Kathedralen,<br />
die unnahbar wirken, die Nichtigkeit<br />
des Menschen im Ansicht der göttlichen<br />
Allmacht symbolisieren wollen und zu einsamem<br />
Gebet oder Kontemplation aufrufen,<br />
sind Moscheen Orte der Begegnung. Sie<br />
wirken deutlich niedriger, oft durch große<br />
Leuchter, die knapp über den Köpfen aufgehängt<br />
sind, und somit der Eindruck einer<br />
zweiten, deutlich flacheren Decke entstehen<br />
lassen. Auch das Format als Zentralbau und<br />
ganz stark der Teppich, auf dem sich alle<br />
(Männer) ungeordnet barfuß oder strümpfig<br />
zum Gebet einfinden, dienen dem gegenseitigen<br />
Treffen. Kinder hüpfen zwischen den<br />
Betenden herum und spielen.<br />
Die Auffassung von Gemeinsamkeit spiegelt<br />
sich auch im sehr regen Tierleben der Stadt<br />
wieder. Hunde sind in selbstorgansierten<br />
Verbänden frei unterwegs. Sie kommen mit<br />
dem katastrophalen Straßenverkehr zurecht.<br />
Sie sind (bisher) niemals aggressiv und integrieren<br />
sich in das Chaos der Menschen<br />
um sie. Nur nachts fallen sie manchmal auf:<br />
wenn einer aufgeregt ist und anfängt zu bellen,<br />
fallen alle anderen mit ein. Und es kann<br />
dauern, bis sie sich wieder beruhigen.<br />
Religiosität ist weiter verbreitet als bei uns in<br />
Deutschland. Ich traue mich kaum, mich als<br />
Atheistin zu bezeichnen, das ist hier undenkbar<br />
und hat schon meinen sehr westlichen<br />
Türkischlehrer in entsetztes Erstaunen versetzt.<br />
Vermutlich würde man mir hier einfach<br />
nicht glauben und davon ausgehen, dass es<br />
sich um ein sprachliches Missverständnis<br />
handelt. Was nicht heißt, dass die alle hier<br />
ihre fünf Gebete täglich einhalten oder auch<br />
nur einmal am Tag oder einmal in der Woche<br />
in die Moschee gehen. Dort scheinen die<br />
gleichen Probleme zu existieren, wie bei uns<br />
in den Kirchen auch.<br />
Ich habe mir nicht vorstellen können, einmal<br />
neben einer verschleierten Frau zu joggen.<br />
Ist mir jetzt schon mehrmals passiert, allerdings<br />
nur mit mild verschleierten. Es gibt<br />
ganz unterschiedliche Grade der Verschleierung.<br />
Manche Frauen sind nach westlichem<br />
Stil, zum Teil sehr figurbetont gekleidet und<br />
haben ein modisch passendes Kopftuch. Sie<br />
sagen, sie fühlten sich nackt, wenn sie es<br />
nicht trügen. Viele Frauen haben auch im<br />
Sommer einen langärmligen und knöchellangen<br />
Mantel an, z.T. auch sehr modisch<br />
geschnitten und mit Accessoires versehen.<br />
Ungewohnter und auch einschüchternder<br />
wirken schwarz verschleierte Frauen, zum<br />
Teil mit einer Art Badekappe unter dem<br />
Schleier, damit auch wirklich kein Haar zu<br />
sehen ist, und Stecknadeln an Kinn und<br />
Schläfen. Die nächste Stufe ist dann die Verschleierung<br />
des Körpers und des Gesichtes,<br />
mit einem schmalen Steg über die Nase, so<br />
dass nur noch die Augen zu sehen sind oder<br />
sogar mit einem Gitter über den Augen und<br />
mit Handschuhen, alles schwarz. Deprimierend<br />
und auch total unpraktisch. Beim Essen<br />
muss immer vorsichtig der Schleier gehoben,<br />
rasch ein kleiner Bissen in den Mund<br />
geschoben und dann mit der Serviette nachgetupft<br />
werden. Ich würde ziemlich abnehmen<br />
auf diese Art, es gibt aber durchaus<br />
auch sehr üppige, vollverschleierte Frauen.<br />
84 85