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„Scheiße“, flüsterte Jack zu sich selbst, den Blick über die Schulter hinunter auf den<br />

Koffer gerichtet.<br />

Er durchsuchte einige weitere Kartons, bevor er aus einem von ihnen ein abgewetztes<br />

Fernglasetui aus Leder hervorholte. Er nahm das Fernglas aus dem Etui. „Da ist es ja.“<br />

Ich stand am Fußende der Leiter, während er mir das Fernglas hinunterreichte.<br />

Es war in tadellosem Zustand — das dunkle Metall, das Chrom, die Glaslinsen, jede<br />

Oberfläche reflektierte das Sonnenlicht, das sich an das Fenster des Schuppens<br />

schmiegte.<br />

Jack kletterte die Leiter hinunter und klopfte mir auf die Schulter. „Wenn sie diesen<br />

Sommer zurückkommt, die Schwalbe, dann bist du vorbereitet.“<br />

Ich schaute auf das Fernglas hinunter. „Aber wie sieht sie aus, Jack? Ich kann einen<br />

Vogel nicht vom anderen unterscheiden.“<br />

Statt einer Antwort reichte mir Jack ein Buch vom Regalbrett über der Werkbank —<br />

Zugvögel der Welt. Während ich es durchblätterte, konzentrierte er sich auf den Koffer,<br />

der zu Boden gefallen war. Er hob ihn am Griff hoch und schüttelte ihn. Ich hörte darin<br />

etwas sanft rascheln. Ich blickte zu Jack hinüber, um zu sehen, ob er es ebenfalls gehört<br />

hatte.<br />

Er kratzte sich den Kopf. „Was haben wir denn da?“<br />

Er legte den Koffer auf die Werkbank, schickte sich an, ihn aufzuschnallen, und<br />

zögerte dann einen Moment lang, bevor er ihn schließlich öffnete. Ich trat näher an die<br />

Werkbank heran und blickte hinab auf die schillernden Pailletten, die auf den strahlend<br />

weißen Stoff von etwas genäht waren, das wie ein Hochzeitskleid aussah.<br />

Jack griff in den Koffer und hob das Kleid heraus. Er hielt es in den Armen wie ein<br />

neugeborenes Baby. „Das ist das Hochzeitskleid meiner Frau“, erklärte er. „Sie ist jetzt<br />

schon seit über zehn Jahren nicht mehr am Leben.“<br />

Er drehte langsam eine Runde durch den Raum, das Kleid an sich gedrückt, als<br />

würde er mit ihm Walzer tanzen. Als ich sah, dass er Tränen in den Augen hatte, ging ich<br />

hinaus in den Garten und ließ ihn allein.<br />

Als Jack schließlich aus dem Schuppen kam, lud er mich in sein Haus ein. Während<br />

wir an einem Holztisch saßen und Tassen mit süßem Tee tranken, sprach er über ihre<br />

fünfundvierzig Jahre Ehe und den Tod seiner Frau nach kurzer, aber schmerzhafter<br />

Krankheit.<br />

„All die Jahre unterwegs, von Ort zu Ort. Ich hätte mit ihr zuhause bleiben sollen.<br />

Ich habe das erst verstanden, nachdem ich sie verloren hatte. Wir verbrachten in jenen<br />

Jahren mehr Zeit auseinander, mehr Nächte in getrennten Betten als dort, wo wir hätten<br />

sein sollen, einander im Arm haltend.“<br />

Ich hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. Ich wollte Jack sagen, dass ich sicher<br />

war, dass sie sich sehr geliebt hatten, und dass ihre gemeinsame Zeit die getrennt<br />

verbrachten Nächte mehr als wettgemacht hatte. Aber ich konnte es nicht. Ich hatte das<br />

Gefühl, ihn dafür nicht gut genug zu kennen. Und außerdem waren wir Männer, also<br />

sagte ich das, was von Männern bei solchen Gelegenheiten erwartet wird.<br />

„Du warst unterwegs und hast hart gearbeitet, Jack, für euch beide. Ich bin sicher, sie<br />

hätte das verstanden.“<br />

Er studierte den Boden seiner Tasse, während er über meine Worte nachdachte.<br />

„Wir verstanden es beide“, antwortete er schließlich. „Vielleicht hast du Recht. Aber<br />

es ändert nichts daran. Diese getrennt verbrachten Nächte summierten sich zu Jahren<br />

der Trennung. Verschwendeten Jahren.“<br />

Es war zu Beginn des letzten Frühlings, als mir zum ersten Mal eine Veränderung an<br />

Jack auffiel. Ich war eines Morgens am Briefkasten, als er mir über die Hecke hinweg<br />

zurief: „Ron! Hey, Ronnie, mein Junge!“<br />

208 WETTERSTATIONEN: KLIMAWANDEL SCHREIBEN

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