Forschung Migration und Gesundheit im Rah - Bundesamt für ...
Forschung Migration und Gesundheit im Rah - Bundesamt für ...
Forschung Migration und Gesundheit im Rah - Bundesamt für ...
Create successful ePaper yourself
Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.
Abbildung 1: Beispiel einer ausgefüllten Ges<strong>und</strong>heitskurve<br />
+3<br />
+2<br />
+1<br />
-1<br />
-2<br />
-3<br />
Ges<strong>und</strong>heitszustand<br />
10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 120<br />
auch – konfrontiert mit einer Kumulation von Problemen, die<br />
mit migrationsspezifischen Lebensbedingungen zu tun hat<br />
<strong>und</strong> ihre Lebenswelt mitprägt. So erschweren best<strong>im</strong>mte<br />
rechtliche Bedingungen ihre Situation, etwa in Bezug auf die<br />
Unsicherheit des Aufenthaltsrechts, die Vermischung von Aufenthaltsstatus<br />
<strong>und</strong> Ehebeziehung, die Nichtanerkennung von<br />
Ausbildungen <strong>und</strong> das Vorhandensein von Diskr<strong>im</strong>inierung auf<br />
dem Arbeitsmarkt. Hinzu kommen Vereinsamung aufgr<strong>und</strong><br />
der geografischen Trennung von Familienangehörigen, die<br />
moralische <strong>und</strong> materielle Hilfe leisten könnten, <strong>und</strong> oft auch<br />
die Sorge um Angehörige, die zu Hause in Gefahr sind. Zudem<br />
hat sich leider unsere Annahme bestätigt, dass MigrantInnen<br />
aus Afrika in der Schweiz Erfahrungen mit rassistischer Diskr<strong>im</strong>inierung<br />
machen.<br />
Dass die von uns Befragten Ges<strong>und</strong>heitsprobleme in der<br />
Schweiz mit Stress in Verbindung brachten, ist an sich nicht<br />
erstaunlich, denn das populäre Konzept Stress bietet ihnen<br />
ein Erklärungsmodell <strong>für</strong> die als unangenehm erlebten Schattenseiten<br />
ihres Lebens in einer (post)modernen Gesellschaft.<br />
Schwierige Lebensbedingungen als Ges<strong>und</strong>heitsprobleme zu<br />
betrachten <strong>und</strong> in einen Erklärungszusammenhang mit Stress<br />
zu stellen, deuten wir als eine Annäherung an den in der<br />
Schweiz heute üblichen Umgang mit Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit.<br />
Zum einen hilft ihnen dieses Krankheitsbild, ihre physischen<br />
<strong>und</strong> psychischen Symptome einzuordnen, zum anderen<br />
bietet es ihnen eine Anleitung zum Handeln, nämlich die Besinnung<br />
auf eigene Widerstandsressourcen.<br />
Über die konkrete Erklärungshilfe <strong>und</strong> Handlungsanleitung hinaus<br />
trägt unserer Ansicht nach die Aneignung des sowohl<br />
bei Laien wie ExpertInnen populären Konzepts Stress zur Stärkung<br />
des sozialen Zugehörigkeitsgefühls bei. Einfach ausgedrückt<br />
heisst das: Man hat etwas, was die SchweizerInnen<br />
– <strong>und</strong> darüber hinaus die Menschen in anderen europäischen<br />
Ländern <strong>und</strong> in den USA – ebenfalls haben. Dies ermöglicht<br />
eine persönliche Identifikation mit den anderen Mitgliedern in<br />
diesen modernen Gesellschaften <strong>und</strong> gleichzeitig eine Reflexion<br />
über die unterschiedlichen Lebenssituationen.<br />
Personen, die über Stress sprechen, psychologisieren, anstatt<br />
zu somatisieren. Insofern bietet dieses Erklärungsmodell nicht<br />
nur eine Hilfe <strong>für</strong> die Betroffenen selbst, sondern auch einen<br />
wichtigen Ansatzpunkt <strong>für</strong> die Mitarbeitenden <strong>im</strong> schweizerischen<br />
Ges<strong>und</strong>heitswesen. Über das Krankheitsbild Stress<br />
könnte somit PatientInnen geholfen werden, bei denen trotz<br />
Alter<br />
in Jahren<br />
genauer medizinischer Abklärung keine organischen Bef<strong>und</strong>e<br />
nachweisbar waren, die aber unter diffusen Schmerzen, Angstzuständen<br />
oder anderen emotional als unangenehm oder gar<br />
bedrohlich erlebten Symptomen leiden.<br />
Aus dieser Überlegung <strong>und</strong> den davor dargelegten Erkenntnissen<br />
leiten wir unser Hauptargument ab: Resiliente Eingewanderte<br />
aus Afrika haben gelernt, körperliches <strong>und</strong> emotionales<br />
Unwohlsein als durch Stress verursachte Ges<strong>und</strong>heitsprobleme<br />
«positiv» zu interpretieren. Dieses Krankheitsbild hilft<br />
ihnen, die schwierigen Lebensbedingungen, die mit der <strong>Migration</strong><br />
in eine moderne Leistungsgesellschaft verb<strong>und</strong>en<br />
sind, besser zu meistern. Die Aneignung eines bei Schweizer<br />
Laien <strong>und</strong> ExpertInnen populären Krankheitsbildes <strong>und</strong> die<br />
damit erworbene Lebenskompetenz verstärken das Gefühl<br />
der sozialen Zugehörigkeit. Dieses ermutigende Gefühl kann<br />
wiederum einen positiven Einfluss auf das alltägliche Erleben<br />
von Ges<strong>und</strong>heit in der <strong>Migration</strong> haben. Wie unsere Studie<br />
zeigt, haben resiliente Eingewanderte aus Afrika über ihr in der<br />
Schweiz bzw. in Europa erworbenes Verständnis von Stress<br />
bereits beachtliche Ressourcen entwickelt. Auf der Basis dieser<br />
zentralen Erkenntnis können Entscheidungshilfen <strong>für</strong> Politik<br />
<strong>und</strong> Praxis erarbeitet werden.<br />
Die hier präsentierten Daten, Erkenntnisse <strong>und</strong> Argumente<br />
sind aus einer vertieften Auseinandersetzung mit den an der<br />
Studie Teilnehmenden <strong>und</strong> <strong>im</strong> schweizerisch-afrikanischen<br />
<strong>Forschung</strong>steam hervorgegangen <strong>und</strong> weisen unserer Meinung<br />
nach eine hohe innere Validität auf. Ob <strong>und</strong> inwiefern<br />
sie sich auf Eingewanderte anderer Altersgruppen oder aus<br />
anderen Herkunftsländern übertragen lassen, müsste in Folgestudien<br />
untersucht werden.<br />
51