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Literarischer Rettungsschirm.pdf - Internationales Literaturfestival ...

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GEORGI GOSPODINOV ,EUROPE NOW<br />

sprechen. Ich glaube nicht an überzeugte Menschen. Die Menschen, auf die ich bei meiner Krise ver -<br />

traue, kommen aus dem Bereich der Literatur und der Unsicherheit, des Zögerns und des seelischen<br />

Schmerzes. Denn sie sind die wahren Experten für Krisen, sowohl heute als auch im 20. Jahrhundert.<br />

Ihre Namen sind Pessoa, Kafka, Eliot oder Borges, um nur einige von ihnen zu nennen.<br />

Europa ist viel zu wichtig, um es den Finanziers und Politikern zu überlassen. Der Mythos ist das<br />

Nichts, das alles ist, sagt Pessoa. Dem altgriechischen Mythos zufolge war Europa ein schönes Mäd -<br />

chen, entführt von Zeus höchstpersönlich, der sich in einen weißen Stier verwandelt hatte. Heute<br />

müssen wir uns Europa zurückholen, entführt von einem anderen Stier, dem Stier der Banken [siehe<br />

die Bronzeskulptur in der Wall Street], von Finanzexperten und Eurokraten.<br />

Europa ist ohne das »Nichts« des Mythos unmöglich, ohne das neuerliche Erfinden unseres Verlangens<br />

nach ihm, ohne zumindest ein bisschen Leidenschaft [die des weißen Stiers]. Die Krise ist eine Krise<br />

der Art und Weise, wie wir Europa erdichten, eine Krise unserer Erzählung von Europa. Und hier, wie<br />

immer, wenn die Dinge hoffnungslos werden, können wir sagen: Bühne frei für die Literatur. Nicht zu -<br />

letzt wegen ihrer alten Funktion – um zu trösten, eine Geschichte zu erzählen, die das Ende hinauszögert,<br />

so wie es Scheherazade tut. Das Hinauszögern des Endes ist eine alltägliche und allnächtliche<br />

Angelegenheit, weiß die Literatur. Das geht nicht ein für alle Mal. Es gibt keinen Einmalkredit, der<br />

groß genug wäre, als dass er plötzlich und für immer jede Krise lösen könnte. Aber die Banker und<br />

Politiker lesen Scheherazade nicht oder haben sie vergessen.<br />

Es ist kein Zufall, dass man mitten in Europa auf dem besten Weg ist, das Higgs-Boson zu entdecken<br />

[oder man hat es schon entdeckt, Gott schweigt dazu], dieses verbindende Teilchen, ohne welches,<br />

behaupten die Physiker, unsere Welt in alle Richtungen davonfliegen würde.<br />

Das Defizit an Zukunft wiegt schwerer als das Defizit an finanziellen Mitteln. Das Zur-Neige-Gehen<br />

der Sinnvorkommen ist schlimmer als das Zur-Neige-Gehen der Ölvorkommen. Der Verlust des Traums<br />

von Europa ist irreparabler als der Verfall des Eurokurses. Oder zumindest hängt all das zusammen.<br />

Wir stehen vor Dingen, die man nicht mit wirtschaftlichen Fachbegriffen berechnen kann, die ökonomische<br />

Waage fängt sie nicht ein, auch nicht die fiskalen Apparate, diese Dinge haben keinen Strich -<br />

code. Es gibt keine Möglichkeit, die europäische Trauer, die Freude, den Sinn oder das Gefühl von<br />

Scheitern zu messen ... Hier bedarf es eines anderen Expertentums und einer anderen Bildung. Ich<br />

behaupte, die Literatur weiß mehr über die Krise.<br />

Regierungen kommen und gehen, würde ein heutiges Buch Kohelet sagen. Auch die größten Banken<br />

können Insolvenz anmelden. Sogar Staaten können pleitegehen. Nicht einmal die EU ist von Dauer.<br />

Nur eines kann keinen Bankrott erklären – gute Literatur.<br />

Ich stelle mir eine Literarische Europäische Union vor. Einen Ort, wo Wertpapiere einfach wertvolle<br />

Bücher sind. An den Wertpapierbörsen wird mit Geschichten gehandelt, der Markt ist stabil nach dem<br />

Index von Joyce. Die Wirtschaftsbeilagen der Zeitungen werden zu Literaturbeilagen. Die »Finan cial<br />

Times« wird zur Börsennotierung der gefragtesten Bücher. Die Premierminister der europäischen Staa -<br />

ten diskutieren bei langen nächtlichen Sitzungen die maßgeblichen Tendenzen im spanischen Ro man<br />

und die Rolle der neu aufgenommenen osteuropäischen Literaturen. Angela Merkel rezitiert begeistert<br />

Kavafis’ Gedicht »Warten auf die Barbaren«. Der griechische Regierungschef antwortet mit einem so -<br />

eben von Günter Grass geschriebenen Gedicht. Und die »FAZ« erscheint mit dem Aufmacher »Und<br />

nun, was sollen wir ohne Probleme tun?«, mit dem sie den griechischen Dichter paraphrasiert.<br />

Vom literarischen Bruttoinlandsprodukt her betrachtet katapultieren sich einige Staaten, von denen man<br />

bis vor Kurzem noch der Meinung war, sie befänden sich in Schwierigkeiten, an die Spitze. Irland, Spa -<br />

nien und Griechenland suchen nach Möglichkeiten, um ihre literarischen Überschüsse zu inves tieren.<br />

Ich schalte mein altes Radio aus Holz ein, drehe an den Knöpfen und höre, wie alle europäischen Sen -<br />

der ihre zentralen Nachrichtensendungen mit einem Gedicht beginnen. Ehemalige Banker und Finan -<br />

ziers haben umgeschult und erklären die letzten Börsenbewegungen in Hexametern. Das wird ihr<br />

Fegefeuer sein.<br />

Wenn Sie das heute für unmöglich halten, dann sprechen wir morgen noch einmal darüber. In jedem<br />

Fall besitzt Europa keine dauerhafteren Aktiva als seine Literatur [also gut, seine Kultur]. Europa, abgesichert<br />

durch Literatur.<br />

[Übersetzt aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann]

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