Literarischer Rettungsschirm.pdf - Internationales Literaturfestival ...
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MICHAIL SCHISCHKIN EUROPE NOW<br />
zählt viele Millionen armer, ungebildeter, trunksüchtiger Menschen, die mental im Mittelalter leben.<br />
Der andere, größere Teil konzentriert sich in den beiden russischen Metropolen – es sind gebildete,<br />
wohlhabende Menschen, die die ganze Welt bereist und europäische Vorstellungen von einer demokratischen<br />
Gesellschaftsstruktur haben. Für die einen kann nur Vater Zar mit eiserner Hand Ordnung<br />
in Russland herstellen. Für die anderen ist die ganze russische Geschichte ein blutiger Sumpf, aus<br />
dem das Land herausgeholt und zu einer liberalen europäischen Gesellschaftsordnung geführt werden<br />
muss. Wozu dieser Widerspruch im Jahr 1917 geführt hat, wissen wir. Bis heute haben wir die<br />
Folgen dieser verheerenden russischen Katastrophe nicht überwunden.<br />
In Russland wird noch immer dasselbe Spiel für drei Spieler gespielt: Das Volk schweigt, die im Entstehen<br />
begriffene Gesellschaft fordert für sich eine »schweizerische« Volksherrschaft und erklärt der<br />
Regierung den Krieg und der Staatsmacht bleibt nur, abzudanken oder die Schrauben fester anzuziehen.<br />
1917 dankte die Staatsmacht bis zur Selbstauflösung ab und das Land versank in einer derartigen<br />
Anarchie, dass es der bis dahin ungekannten Diktatur Stalins bedurfte, um wieder Ordnung<br />
herzustellen.<br />
Im wohl russischsten Text der russischen Literatur, in den »Toten Seelen«, vergleicht Gogol meine Hei -<br />
mat mit einer rasenden Troika, die die anderen Länder und Staaten überholt: »Wohin stürmst du,<br />
Russland? Gib Antwort! Du schweigst.« Jedes Schulkind kennt diese Zeilen. Sie haben Generationen<br />
von russischen Lesern Hoffnung gemacht. Wohin stürmt denn die Troika – in die lichte Zukunft?<br />
Seit Gogol sind anderthalb Jahrhunderte vergangen. Das Land hat historische und das Volk genetische<br />
Erfahrung gesammelt. Die epochalen sozialen Befreiungsexperimente haben zu noch grausamerer<br />
Diktatur geführt, unter jedem Regime wurde der begabteste und aktivste Teil der Bevölkerung<br />
entweder vernichtet oder in die Emigration gezwungen. Ach, im Besitz dieser bitteren Erfahrung wür -<br />
de der große Schriftsteller Russland heute mit einem Metrozug vergleichen, der vom einen Ende des<br />
Tunnels zum anderen fährt – von der Diktaturordnung zur Anarchodemokratie und zurück. Das ist sei -<br />
ne Strecke. Kein anderes Ziel erreicht man in diesem Zug.<br />
Meiner Generation war es vergönnt, in beiden Richtungen durch den russischen Tunnel zu rollen. Die<br />
Perestroika und die Schwäche der Staatsmacht haben das Land ins Chaos der neunziger Jahre gestürzt,<br />
dann fuhr der Zug in die Gegenrichtung und wir fanden uns im neuen Putin-Imperium wieder.<br />
Vergleicht man die gegenwärtigen Ereignisse in Russland mit der Geschichte Europas, so stehen die<br />
Russen wieder einmal kurz vor einer bürgerlichen Revolution. Aber wird sie gelingen? Meine Eltern<br />
lebten in der kommunistischen Sklavenhalterordnung und setzten mich als sowjetischen Sklaven in<br />
die Welt. Der unverhoffte Tod der drei letzten Generalsekretäre der KPdSU führte Russland zur »Demokratie«,<br />
die sich in das patriarchalische Feudalsystem Putins verwandelte: Die Macht ist von oben<br />
nach unten auf der persönlichen Ergebenheit des Vasallen [Gouverneurs, Bürgermeisters, Bezirksprä -<br />
fekten usw. bis zum kleinen Bullen] seinem Souverän gegenüber aufgebaut. Dieses System ist sehr<br />
haltbar und ich fürchte, nicht nur eine russische Generation wird in ihm geboren werden und mit ihm<br />
leben müssen.<br />
Was soll die »europäische« Minderheit in Russland tun? Versuchen, die Regierung zu bekämpfen?<br />
Auswandern? Und zu guter Letzt: Wenn man die demokratische Willensbekundung der Mehrheit als<br />
einzig richtige Entscheidung anerkennt, dann muss man sich damit abfinden, dass in Russland selbst<br />
in den freiesten Wahlen wiederum Putin siegen wird. Für die feudale Mentalität der Bevölkerungsmehr -<br />
heit unseres riesigen Landes ist die Staatsmacht wie eh und je sakral, weil sie die Macht ist. Deshalb<br />
wird auch für die Macht gestimmt.<br />
Alle Ereignisse der letzten Zeit belegen, dass in Russland die Schrauben wieder fester angezogen<br />
werden. Die Regierung hat nicht vor, auch nur einen Schritt zurückzuweichen. Allen, denen es nicht<br />
gefällt, in Putins System zu leben, wird unzweideutig nahegelegt, das Land zu verlassen – die Grenzen<br />
sind offen. Wir stehen auf der Schwelle zu einer neuen Großen Völkerwanderung. Sie hat schon<br />
eingesetzt. In den nächsten Jahren werden Hunderttausende von Menschen aus Russland nach<br />
Europa einströmen.<br />
Kehren wir nun zum »Teremok« zurück. Alle Versuche des Bären, sich in das Tierhäuschen zu zwängen,<br />
müssen natürlich scheitern. Der Bär wird wütend und setzt sich auf das Häuschen. Damit ist es mit<br />
dem Häuschen und dem Märchen aus.