Literarischer Rettungsschirm.pdf - Internationales Literaturfestival ...
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12. INTERNATIONALES LITERATURFESTIVAL BERLIN EUROPE NOW<br />
ANATOLIJ GRINVALD<br />
DIE KATZE<br />
1. Die Völkerschlacht bei Leipzig<br />
Du tratst auf die Straße und begannst, Verse vorzutragen. Die Straße befand sich in Leipzig und das<br />
erste Gedicht handelte von dieser Stadt:<br />
Arm ist mein Leipzig. Und der arme Bach<br />
schleppt sich durch Leipzig im zerlumpten Hemd.<br />
Unpopulär. Gejagt. Unglücklich in der Ehe.<br />
Redet Touristen an, schnorrt Zigaretten.<br />
Goethe im schmutzigen Keller trinkt Kadarka.<br />
Faust stürmt herein, die beiden prügeln sich.<br />
Ein Sanitäter kommt mit einem Rollstuhl.<br />
Mit Gurten wird, wie ein Geschenk mit Bändern,<br />
Goethe umschnürt und dann hinausbefördert<br />
und in ein Krankenhaus gebracht am Stadtrand.<br />
Dort die Luft so klar, die Sterne sichtbar.<br />
Dort wird ein netter Arzt mit spitzem Bärtchen,<br />
der stark an Mephistopheles gemahnt<br />
durch seine Art, die Seele und die Haut<br />
mit Wort und Nadel zu zerpicken, nachts<br />
erscheinen und verrückte Fratze schneiden.<br />
Dort ist es schlimm. Der Leib vom Krampf geschüttelt.<br />
Dort fließen alle Formen ineinander,<br />
werden zu einem matten Fleck im Spiegel.<br />
Niemand schmiss etwas in deinen blank geputzten Hut eines vom Leben gebeutelten Gentleman. Es<br />
blieb nicht einmal jemand stehen, bis auf ein Mädel, das in Eile über die Schulter »Scheiße« keuch te.<br />
Aber Russen geben so schnell nicht auf, nicht wahr? Insbesondere die Deutschrussen. Ihnen ist es<br />
schnurz, wo sie sterben sollen – ob bei Moskau, bei Stalingrad, bei Berlin oder bei Leipzig. Also<br />
hast du weiter und weiter gelesen. Bis dir klar wurde, dass Straßenpoesie wohl bessere Orte kennt<br />
als Leipzig.<br />
2. Fatalismus als treibende Kraft der Dichtung<br />
Das Hungern hast du dir angewöhnt. Schon im früheren Leben, in Kasachstan, kehrtest du oft dieser<br />
ganzen provinziellen Zivilisation den Rücken und fuhrst zur Datscha eines treuen Freundes – was<br />
wiederum bedeutete: vier, fünf Tage lang ohne Futter. Nur mit Tee und Zigaretten. So schriebst du ein -<br />
mal: »Zigaretten unterdrücken den Gedanken ans Essen wie Pornos den Gedanken an echte Liebe«.<br />
Das Hungergefühl legte sich am dritten Tag. Am sechsten Tag packte dich ein furchtbarer Durst. Also<br />
fuhrst du vom schneebedeckten Außenbezirk zu einem anderen, nicht weniger treuen Freund. Und:<br />
ein Liter Wodka für zwei. Auf leeren Magen haute es einen schon nach dem ersten Stamper um.<br />
Oder waren etwa die Stamper so groß? Wir lasen uns eigene Verse vor. In der Art: »Küsse, die ohne<br />
Liebe gezeugt sind, liegen wie Raureif auf den Lippen.« Und gingen die dritte Flasche holen. Nach<br />
der dritten eilte der Freund gewöhnlich, sich vor den nächsten Zug zu schmeißen. Und natürlich liefst<br />
du ihm anfangs noch hinterher und bewahrtest ihn davor. Dann warst du es leid, ihm nachzuhetzen.<br />
Er kam auch so jedes Mal zurück. Ein wenig platt, aber nicht durch die Räder, und mit wildem Flakkern<br />
in den Augen. Wahrscheinlich hatte der Zug andauernd Verspätung oder es war jedes Mal der<br />
verkehrte. Oder er hatte es endlich kapiert, dass der Stoff seit »Anna Karenina« abgenudelt ist. Aber<br />
es blieb nicht bei dem Spiel mit dem Zug. Manchmal wurde auch eine Patrone genommen und – in<br />
Ermangelung einer Pistole – auf den heißen Herd gesetzt. Und die Kugel sauste noch lange herum,<br />
von allem abprallend, durch die kleine Küche, wie eine Hummel, die ins Fenster hereingeflogen war,