Literarischer Rettungsschirm.pdf - Internationales Literaturfestival ...
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12. INTERNATIONALES LITERATURFESTIVAL BERLIN EUROPE NOW<br />
MARKO POGAČAR<br />
ALS ICH STERNE AUS DER NÄHE SAH ODER:<br />
INTEGRATION IN VIER PUNKTEN<br />
Beitrittskapitel eins<br />
Es war Ende der neunziger Jahre, die Panzerspuren der vierten Brigade, die die guten und schlechten<br />
Jungs der Militäroperation Sturm nach Hause brachte, waren schon etwas verwischt, die Geräusche<br />
der Waschmaschinen, Kühlschränke, Fernseher und Stereoanlagen der falschen Nationalität,<br />
die ihnen noch monatelang auf überladenen Lkw-Anhängern und Traktoren folgten, waren bis zur Hör -<br />
barkeitsschwelle verklungen und mir ging das alles am Arsch vorbei. Ich war genau halb so alt wie<br />
jetzt und irgendwie nicht richtig integriert. Die Typen aus dem Gymnasium waren damals auf drei<br />
Sachen scharf: Fußballklub Hajduk, Kroatien und Oasis. Der Mechanismus nicht kompliziert. Auf<br />
Hajduk fuhren dort, seit man denken kann, mehr oder weniger alle ab und es gab sogar mal eine Zeit,<br />
als das sinnvoll war. Bevor er ein drittklassiger Provinzfußballklub geworden war und seine Anhänger<br />
eine Bande kahl geschorener Faschisten, konnte dieses Team auf europäischen Cups abräumen: 1944<br />
gewannen sie noch als Mannschaft der Volksbefreiungsarmee Jugoslawiens, in Split besiegten sie<br />
die unerreichte britische Mannschaft. Ich hatte zwei linke Beine und keine Lust, im Tor zu stehen, in<br />
Stadions zu gehen oder überhaupt etwas in Verbindung mit Fußball zu tun.<br />
Auch Kroatien geriet in diesen Jahren unweigerlich in den Mittelpunkt, noch viel mehr als jetzt. Es<br />
stimmt zwar, dass wir ein schlechtes Leben hatten, in dieser erbärmlichen turbo-katholischen, nationalistischen<br />
Autokratie, aber, hey, wir hatten unseren Staat! Weder damals noch heute begriff ich, wel -<br />
chen Wert ein Staat an sich haben soll, also ging mir auch das am Arsch vorbei. Das kommt möglicherweise<br />
daher, dass ich das ungetaufte Kind eines slowenischen Jugo-Offiziers bin, der sich bei<br />
Kriegsbeginn in seine Republik absetzte und einer kroatischen Postbeamtin, die geblieben ist; und<br />
solche, das weiß man ja, waren immer die Feinde, sie waren vielmehr die Verräter Unserer Sache. Wenn<br />
ich es recht bedenke – ich hatte noch Glück gehabt.<br />
Das hatte alles eine wirtschaftliche und politische Grundlage, es ist die Folge von ein paar hässlichen<br />
Ideen und dumpfen Menschen; und Oasis? Tja, das werde ich wohl nie verstehen. Die Chronologie<br />
ist jedenfalls offensichtlich: Ein paar Jahre zuvor konnten wir zum ersten Mal MTV-Signale empfangen<br />
[man sagte, nicht ganz zu Unrecht, die Satellitenschüsseln hätten die UdSSR gestürzt] und die<br />
Hyperinflation der Spektakel, denen wir tagtäglich ausgesetzt waren, erhielt endlich auch ihre popkulturelle<br />
Gestalt. Also, im Rahmen, oder besser im Kern, einer ähnlich geschaffenen großen Geschichte<br />
– jener damals absolut dominanten Geschichte der Reintegration und Homogenisierung der »kro -<br />
atischen nationalen Identität und ihres Wesens«, dieses sehr unklaren, aber allgegenwärtigen Spros ses<br />
unserer jahrhundertelang ersehnten Eigenständigkeit – ereignete sich meine erste wichtige Integrationserfahrung.<br />
Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen. An der Hosentasche meiner Armee-Cargohose trug<br />
ich einen Cripple-Bastards-Anstecker, auf dem T-Shirt die Aufschrift »Mirjana liebt nur echten Ärger<br />
und Punk«. Der General war gerade erst abgekratzt. Die mit Gesichtern und Slogans übermalten Wän -<br />
de waren mit den eigenen Gesichtern retuschiert und eine Nation verliebter Politiker stand vor den<br />
Wahlen. In manche Viertel konnte man nicht einfach so gehen; früher oder später geriet man an Skin -<br />
headgruppen und Fußballfans, die einem im kurzen Prozess die Haut in den Nationalfarben gerbten.<br />
Wir blieben deshalb im Rudel, bis nur wir zwei übrig blieben. Wir, ein glänzendes Tandem, entdeckten<br />
an einer Wand ein kroatisches Wappen und machten uns mit Händen und Füßen daran zu schaffen,<br />
weil wir von diesem Wappen [nonstop] die Nase voll hatten, wir wollten es von dieser Wand reißen<br />
und dieses Abreißen dauerte, es ging nicht, denn das Wappen war schwer und hing fest; und<br />
dann legte sich plötzlich über alles Finsternis.<br />
Und ich sah am blauen Himmel alle Sterne, hauptsächlich gelbe, doch irgendwie merkwürdig verstreut,<br />
und ich integrierte mich sofort in den Boden. Der dreitürige Schrank, der uns am Genick hielt<br />
und mit uns auf den Asphalt schlug, öffnete mein erstes Beitrittskapitel: Es zeigte sich, dass das Wap -<br />
pen im Eingang der Polizeistation in der Petrinska-Straße gestanden hatte, und in dieser Nacht lernte<br />
ich hinter verschlossenen Türen alles, was ich über meine bis dahin klug verborgene Eigenständigkeit<br />
wissen musste. Und die nationale Integration war, das war klar, sine qua non: der erste Schritt in<br />
Richtung Europa.