Literarischer Rettungsschirm.pdf - Internationales Literaturfestival ...
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12. INTERNATIONALES LITERATURFESTIVAL BERLIN EUROPE NOW<br />
SERGEJ TIMOFEJEV<br />
GIB MIR EINEN KUSS AUF DIE NASE,<br />
EUROPÄISCHE FRAGE!<br />
Wenn Sie sich entschließen, ein Haus zu bauen,<br />
rufen Sie bei der Polizei durch. Wenn Sie sich mit der Absicht tragen,<br />
einen Kuchen zu backen, lassen Sie einfach eine Strickleiter<br />
aus dem Fenster herab. Wenn Ihnen die<br />
Augen tränen, genügt es, drei Radkappen zu kaufen<br />
und sie einen Hügel hinunterzurollen.<br />
Der fernste Ort, den die Radkappen erreichen,<br />
bezeichnen Sie mit Rom.<br />
Die Rinde des gebackenen Kuchens bezeichnen Sie mit Athen.<br />
Das Zimmer im Haus, wo ein Korbsessel und ein Radio stehen,<br />
bezeichnen Sie mit Berlin.<br />
Dann nehmen Sie am Fenster in der Küche Platz,<br />
kneten melancholisch Brotkügelchen zwischen ihren Fingern<br />
und machen sich so Ihre Gedanken zu Europa. Hat es eine Zukunft?<br />
Sind die Europäer einander verbunden? Sollte ich mir einen neuen Herd anschaffen?<br />
Gibt es Menschen, deren Hautfarbe dunkler ist als meine? Sollte man sie<br />
überhaupt die Schwelle der Wohnung übertreten lassen? Wird das Jahr 2055 ein glückliches?<br />
In mein eigenes europäisches Land jedenfalls rollen Lastzüge<br />
aus Deutschland mit massiven Eichentischen, Stühlen mit gedrechselten Füßen,<br />
Kästen mit Bierkrügen, Kerzenhaltern, Kaffeemühlen nebst Puppen<br />
aus den Siebzigern.<br />
Das alles wird zu Billigpreisen verramscht. Auch ich suche in diesen Haufen<br />
nach Verstärkern und Geschirr für Picknick-Ausflüge im Sommer.<br />
Versuche ich jedoch zu begreifen, welch ein Teil dieser Welt Europa ist<br />
und wie wir diesen verstehen sollen, finde ich mich vor einer<br />
kilometerlangen und stummen Mauer, der Europäischen Mauer, der<br />
Mauer meiner eigenen Unfähigkeit, der Mauer eines tiefen Unverständnisses, wieder.<br />
Ich frage mich: Was geschieht tatsächlich,<br />
was verbirgt sich hinter den Ereignissen und wie erreichen wir trocken<br />
das rettende Ufer?<br />
Sollte ich etwa den gesamten Karl Marx durchlesen? Mich in die Werke<br />
des heiligen Augustinus vertiefen? Auf die Straße gehen oder es mir<br />
im Zimmer in meinem Korbstuhl vor dem Radio gemütlich machen?<br />
Ich knabbere die Rinde des Kuchens auf. Das ist mein Athen.<br />
Ich werfe mit Steinen auf die Radkappen. Das ist mein Rom.<br />
Da taucht hinter dem Hügel ein Alter auf,<br />
in Leinenhosen mit Hosenträgern.<br />
In der einen Hand hält er eine Uhr an einer Kette, in der anderen –<br />
einen Stapel weißer Flyer, worauf zu lesen ist: