Literarischer Rettungsschirm.pdf - Internationales Literaturfestival ...
Literarischer Rettungsschirm.pdf - Internationales Literaturfestival ...
Literarischer Rettungsschirm.pdf - Internationales Literaturfestival ...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
12. INTERNATIONALES LITERATURFESTIVAL BERLIN ,EUROPE NOW<br />
DRAGANA MLADENOVIĆ<br />
JEMAND MUSS JOSEF K.<br />
BESTOCHEN HABEN<br />
Gelegentliche Sommerurlaube in Griechenland einmal ausgenommen, habe ich die Länder der Euro -<br />
päischen Union erst im Alter von zwanzig Jahren betreten. Das war im Jahr 1997, das in der Bundes -<br />
republik Jugoslawien [SRJ], oder besser gesagt in den Resten der einstigen großen SFRJ [Sozialistischen<br />
Föderativen Republik Jugoslawien], so elend war. Dem Jahr waren die finstersten Tage der<br />
neueren serbischen Geschichte vorausgegangen – sinnlose Kriege und entsetzliche Verbrechen. Der<br />
serbische Alltag war in diesen Tagen von Isolation, Geldmangel, Inflation, Stromsparen, Visum-Bürokratie,<br />
von Schlangen beim Warten auf Grundnahrungsmittel, von ständiger Indoktrinierung durch die<br />
Medien und von Studentendemonstrationen geprägt…<br />
Zu dieser Zeit reisten nur reiche Leute [für die das Milošević-Regime in der Regel kein Problem darstellte],<br />
dann Leute mit einem Ticket nur in eine Richtung, junge Männer, die vorübergehend vor der<br />
Einberufung flüchteten, Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien oder diejenigen, denen es gelungen<br />
war, einen Platz bei einer günstigen Gruppenreise zu ergattern. Ich zählte zu den Letzteren. Von Belgrad<br />
fuhr ich mit etwa vierzig Oberstufenschülern und ihren Lehrern mit dem Bus los. Ich kannte kei -<br />
nen von ihnen.<br />
In der Reiseroute war die Besichtigung von Wien, Paris, Mailand, Verona und Venedig in sieben Tagen<br />
enthalten. Da meine Pilgerfahrt nach Europa hauptsächlich im Bus stattfand, versuchte ich, die hormonellen<br />
Störungen meiner Teenager-Reisegefährten und ihre entsetzliche Turbofolk-Tortur als »all in -<br />
clusive« aufzufassen. Neben mir saß ein Professor für serbische Sprache und Literatur, der, wie ich<br />
später erfahren habe, so oft von Kafka sprach, dass ihm die Schüler den Namen Josef K. verpasst<br />
hatten. Da er schweigsam war, überraschte mich seine heftige Reaktion darauf, dass der Fahrer von<br />
jedem Fahrgast eine Mark verlangte, da das Benzin über Nacht teurer geworden war und er nicht vor -<br />
hatte, 50 Mark aus eigener Tasche zu bezahlen.<br />
»Wie unterstehen Sie sich, Kinder auszurauben! Der Preis wurde im Vorhinein vereinbart! Lassen Sie<br />
den Blödsinn!«, schrie Professor K. Der Fahrer blieb aber stur. Um die Reise so schnell wie möglich<br />
fortzusetzen, hatten wir die verlangte Summe schnell beisammen. Josef wollte nicht daran teilnehmen.<br />
»Wenn man im Modergeruch lebt, stinkt man irgendwann selbst danach«, meinte er wütend. Von<br />
meiner Heimat habe ich kurz vor der Grenze zu Ungarn Abschied genommen, in der Kabine eines<br />
türkischen Klos, an dessen Tür »Serbien bringt mich um« stand. Obwohl es auf der Toilette weder<br />
warmes Wasser noch Seife, noch Papierhandtücher gab, musste man für die Benutzung natürlich<br />
bezahlen. Ich hatte mir etwas anderes gewünscht.<br />
Wenn ich in diesem Moment mein erstes Erlebnis von Europa wieder zum Leben zu erwecken versuche,<br />
fallen mir ständig die Windräder auf dem Weg nach Wien ein, von denen es damals weniger gab als<br />
heute, und Toiletten, die, je weiter wir in die entwickelte Welt vordrangen, immer mehr sensorische<br />
Möglichkeiten boten. Den stärksten Eindruck hinterließ jedoch eine warme Raststätte am Fuße der<br />
Alpen. Es war dunkel, die Luft war kalt und herb. Wir machten etwa eine Viertelstunde halt. Das Motel<br />
oder die Gaststätte oder das Geschäft, oder was immer dieses hübsche Holzhäuschen war, war beleuchtet<br />
und warm. Alles darin war sehr gemütlich. Es roch nach Kaffee und Zimt und die Regale wa -<br />
ren prall gefüllt mit bunten Waren. Ungeachtet all dessen, was ich in den nächsten Tagen auf meiner<br />
ersten Europareise sehen sollte, blieb dieser Raum in meinem Bewusstsein das Symbol für diese fei -<br />
ne, wohl versorgte und nach menschlichen Maßstäben geschneiderte Union.<br />
Josef K. verbrachte die alpine Pause im Bus. Ich war sicher, dass er sich schlafend gestellt hatte.<br />
Vierzehn Jahre später. Weder ist Serbien so, wie es unter dem Milošević-Regime war, noch haben sich<br />
unsere Hoffnungen zur Gänze erfüllt. Den Mund voll Europa, die Ohren voll Kosovo. Die Verwaltung,<br />
die alles bremst, die Bestechungsgelder, die alles beleben. Der Polizist hat das Vergehen für 20 Euro<br />
nicht gesehen, der Arzt hat die Hüfte nicht operiert – 300 Euro, die Krankenschwester hat die Wun -<br />
de nicht verbunden – 50 Euro sind zu wenig, der Ankläger hat die Akte nicht versteckt – 1000 Euro,<br />
der Richter hat keinen Freispruch verkündet – 1500 Euro, keiner hat die Prostituierte auf der Brücke<br />
gesehen, keiner hat sie auch nur angerührt. Den Mund voll Kosovo, die Ohren voll Europa.<br />
Mein Mann und ich eilen durch die Straßen von München. Um 17 Uhr fährt der Bus nach Belgrad. Wir<br />
beeilen uns im naiven Glauben, dass auch dieser Bus, wie alle Züge, mit denen wir Deutschland bereist<br />
haben, pünktlich sein wird. Die Bahnsteige befinden sich unten, im Untergeschoss des Gebäu-