Literarischer Rettungsschirm.pdf - Internationales Literaturfestival ...
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die Schweinswale den Geruch des toten Mädchens witterten und gegen die Flanken des Schiffs trom -<br />
melten, um es umzustoßen. Also rissen die Leiter ihr die Tochter aus den Armen und warfen sie über<br />
Bord. Kaum war der Leib im Wasser, verschwand er. Nur der schwarze Rücken eines Schweinswals<br />
blitzte kurz auf.<br />
In Astrachan mussten wir in einen Zug steigen, der war eigentlich für den Viehtransport gedacht. Es<br />
gab weder Toiletten noch Schlafgelegenheiten. Die Menschen schliefen und aßen am Boden, hier<br />
verrichteten sie auch ihre Notdurft. Die Fahrt dauerte über einen Monat. Auch hier starben etliche<br />
unterwegs. In Kasachstan wurden wir immer wieder in fremden Häusern untergebracht [das nannte<br />
man Umsiedlung]. Nach diesen Schikanen landeten wir in einem kleinen Badehaus. Vater wurde schon<br />
damals zum Arbeitsdienst einberufen. Ein Überlebender erzählte mir später, Vater hätte einen Fluchtversuch<br />
unternommen. Dabei wurde er gefangen und zu Tode geprügelt. Wir aber mussten die gan -<br />
ze Zeit hungern. Wir zogen von Hof zu Hof und bettelten um wenigstens ein paar Kartoffelschalen.<br />
Mutter briet und zerstampfte sie und kochte daraus eine Suppe. Jeder von uns bekam eine kleine<br />
Schöpfkelle von dieser Brühe, allein Konstantin, der große Bruder, bekam zwei Schöpfkellen. Wir<br />
weinten und fragten, warum er mehr bekomme als wir, und die Mutter erklärte, er sei ein Junge und<br />
brauche mehr, sonst müsste er sterben. Wir antworteten, wir müssten auch sterben. Und bei unserer<br />
Nachbarin starb tatsächlich der Junge ... Auch sie hatte zwei Töchter und einen ältern Sohn. Doch<br />
war die Suppe gerecht unter den Kindern aufgeteilt worden. Später weinte sie und sagte unserer<br />
Mutter: Warum hast du mich nicht gewarnt, dass der Junge zwei Schöpflöffel bekommen soll, vielleicht<br />
wäre er nicht gestorben! Mutter wusste darauf nichts zu erwidern. Eines Tages gingen Oma<br />
und ich in ein Nachbardorf, um dort zu betteln. Da bewarfen uns die Kinder mit Steinen und riefen<br />
uns »Faschisten« nach. Ein Stein traf Oma am Kopf. Sie schaffte es eben noch nach Hause, legte<br />
sich hin, aber stand nicht mehr auf. Und im Winter haben die Wölfe den Hund unserer Nachbarn angegriffen.<br />
Jemand kam ihnen wohl dazwischen, sodass noch etwas übrig blieb. Diese Reste gaben<br />
die Nachbarn uns.<br />
Einmal kam in unser Badehaus eine Katze. Sie sah Konstantin und dachte sich wahrscheinlich, wo<br />
ein Mensch ist, da ist auch Futter. Während Konstantin seinerseits dachte, eine Katze bedeutet etwas<br />
zu essen. Er rief sie vorsichtig, und als sie kam, begann er sie zu würgen. Aber die Katze wollte nicht<br />
sterben. Sie kratzte ihm ein Auge aus, doch er ließ sie immer noch nicht los und drückte umso fester<br />
zu. Er schrie vor Schmerz, aber ließ nicht locker, bis sie tot war. Mama brachte Matlina Paas, eine<br />
Medizinfrau, mit. Die hielt einen Löffel in die Flamme und presste ihn dann gegen das auslaufende<br />
Auge. Dann pflegte sie die Wunde mit irgendwelchen Kräutern und gab Konstantin etwas zu trinken,<br />
was ebenfalls aus Kräutern gemacht war – das sollte seine Schmerzen lindern. Als wir die Katze aßen,<br />
fragte Konstantin zufrieden: Nicht wahr, Mama, jetzt bin ich ein echter Pirat? Alle Welt kannte ihn damals.<br />
Konstantin? Der mit nur einem Auge? Ein guter Mann. So redeten über ihn die Leute.«<br />
5. Die Kunst, Steine bewegungslos zu machen<br />
Anfangs hast du in Deutschland als Möbelpacker gearbeitet. Dann als Elektriker. Bis heute ist es dir<br />
schleierhaft, wie du, völlig untauglich für solcherlei Tätigkeiten, nicht an einem Stromschlag gestorben<br />
bist. Welches Kabel durchschneiden? Das blaue? Das rote? Wie, ein Minenentschärfer, Teufel<br />
noch mal! Dann hast du eine russische Zeitung herausgegeben. Die einzige Einnahmequelle waren<br />
die Werbeanzeigen. Eines Tages brachte ein Reklameagent die Anzeige eines russischen Autoverkäufers.<br />
Eine Woche nach dem Erscheinen des Blattes wurde der Händler verhaftet. Er hatte wohl mit<br />
gestohlenen Fahrzeugen gehandelt. An dem Einsatz nahmen etwa zweihundert Polizisten teil. Sowie<br />
einige Hubschrauber. Damit war die Zeitung erledigt. Sprachkurse hast du keine bekommen, schließ -<br />
lich hattest du sie schon zuvor besucht. Und zwar ein ganzes halbes Jahr lang. Das schimpfte sich<br />
Stufe A 1. Und so kamst du zur Uni: ohne Deutschkenntnisse. Die Dozenten freuten sich von Herzen,<br />
als dein Studium abgeschlossen war. Jetzt hast du den Titel eines MA in Slawistik und Schulden bei<br />
der Bank.