Literarischer Rettungsschirm.pdf - Internationales Literaturfestival ...
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NORBERT SCHEUER EUROPE NOW<br />
ze, wo sie in der Nacht ankommen und in Eifelgebirgen abregnen würden. Vielleicht machen die Kraniche<br />
deswegen hier Rast. »Und vielleicht auch wegen der Wacholderbeeren, die sie gerne fressen«,<br />
sagte der Junge.<br />
Karl wechselte die Straßenseite. Holzlaster donnerten vorbei, es duftete nach frischem Harz. Er folgte<br />
einem Feldweg, der in einen Fichtenwald führte, zu einer verfallenen Grenzstation, die der auf der<br />
Fotografie glich. Da es nun heftig regnete, hatte Karl die Kapuze seines Parkas in die Stirn gezogen.<br />
Er trat in Pfützen, Wasser sickerte in seine Schuhe. Als er aus dem Wald auf die Hochebene kam,<br />
hatte es aufgehört zu regnen, silbriges Mondlicht schien auf vereinzelte Birken, Ginsterbüsche und<br />
flache Gewässer, in deren Nähe die Kraniche sich gesammelt hatten. Er hörte sie auffliegen und mit<br />
hohen, krächzenden Stimmlauten miteinander kommunizieren. Vielleicht hatten sie ihn bemerkt. Karl<br />
bekam Angst vor den vielen in der Dunkelheit schwirrenden Vögeln.<br />
Er lief zum Gasthof zurück. An der Theke standen Fernfahrer, die im Haus übernachteten. Julia brach -<br />
te ihm Schnaps. Er versuchte, ihre Hand zu berühren, und sagte leise ihren Namen. Das Buch lag<br />
noch auf dem Tisch. Er nahm es und ging nach oben. Im Zimmer zog er seine nassen Kleider aus,<br />
die Strümpfe legte er über den Waschbeckenrand, seine Hose zum Trocknen über die Sessellehne,<br />
dann hockte er sich auf die Bettkante, der Schnaps säuselte in seinem Kopf und wie immer, wenn er<br />
etwas getrunken hatte, sprach er leise mit sich selbst. Schließlich ging er zum Waschbecken, legte<br />
die noch nassen Socken beiseite, wusch sich, putzte seine Zähne und legte sich schlafen. Am frühen<br />
Morgen klopfte es an seine Tür. Er stand auf, stolperte durch den dunklen Raum. Als er die Tür öffne -<br />
te, erlosch das Flurlicht und Julia flüsterte, sie habe nicht früher kommen können. Sie habe gewartet,<br />
bis ihr Mann mit Freunden zum Rastplatz der Vögel gefahren sei. Die Männer beobachteten dort je -<br />
des Jahr, wie die Kraniche mit dem Sonnenaufgang zu Tausenden aufflögen und weiterzögen. Karl<br />
umarmte und küsste Julia. Sie setzten sich auf die Bettkante. Karls Fuß stand auf dem Buch, das er<br />
vor dem Einschlafen auf den Boden gelegt hatte. Er schob es vorsichtig zur Seite, zog Julias Ring<br />
ab und hielt ihn in der Faust. Ein Auto auf dem Parkplatz startete, danach hörten sie wieder das<br />
Schreien der Kraniche.