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Literarischer Rettungsschirm.pdf - Internationales Literaturfestival ...

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NORBERT SCHEUER EUROPE NOW<br />

tografie von einer jungen Frau entdeckte, die mit einem Mädchen neben einem Zöllner am Schlagbaum<br />

stand. Die Aufnahme schien am frühen Morgen entstanden zu sein, Nebelschwaden stiegen<br />

aus dem Wald, in den der Weg jenseits des Schlagbaums führte. Im anliegenden Grenzpostenhäuschen<br />

saß ein weiterer Zöllner über einen Schreibtisch gebeugt. Die Personen waren zu weit entfernt,<br />

als dass man ihre Gesichter hätte erkennen können. Karl betrachtete die Fotografie lange, schlief<br />

schließlich darüber ein und wurde von Geräuschen im Nebenzimmer geweckt, jemand ging dort auf<br />

knarrenden Dielen auf und ab, sprach unaufhörlich. Karl überlegte kurz, ob er Sandra anrufen sollte,<br />

sie hatten seit zwei Wochen nicht miteinander gesprochen, hatten abgemacht, sich eine Zeit lang<br />

nicht zu sehen. Sie würde sich über seinen Anruf wundern und Fragen stellen, die er nicht beantwor -<br />

ten wollte. Er stand auf, ging zum Waschbecken, drehte den Hahn auf, hielt seine Hände unter das<br />

kalte Wasser und wusch sein Gesicht, befeuchtete seine Haare, kämmte sie nach hinten, setzte sich<br />

wieder auf das Bett, zog seine Schuhe an. Er nahm den Roman vom Nachttisch, legte die auf den<br />

Boden gefallene Fotografie hinein, steckte das Buch in seine Jackentasche und ging nach unten in<br />

den Gastraum.<br />

An der Theke standen Arbeiter, die ein Haus in der Nähe renovierten, sie sprachen über den Käufer,<br />

einen Holländer, dessen Landsleute alle leer stehenden Häuser in der Gegend aufkauften. An einem<br />

Tisch in der Ecke saß eine Gruppe Wanderer über eine Karte gebeugt, die sie zusammenfalteten, als<br />

das Essen von Julia serviert wurde. Karl bestellte bei ihr ein Bier, ein Schnitzel und einen Salat. Sie<br />

hatte ein schmales, gealtertes Gesicht, lange blonde Haare, die mit einem Haargummi zusammengebunden<br />

waren. Wäre Karl ihr irgendwo in der Stadt begegnet, hätte er sie nicht wiedererkannt, so,<br />

wie sie ihn jetzt nicht erkannte. Julia notierte seine Bestellung auf einem Block, ging zur Theke und<br />

reichte den Zettel in die Küche. Ein Bauer kam in den Gastraum. An der Theke erzählte er von seiner<br />

Kuh, die am Nachmittag von einer Weide ausgebüxt war, in einem Nachbardorf im Fenster einer Terrassentür<br />

ihr Spiegelbild entdeckte, zum Angriff überging, durch das Glas ins Wohnzimmer sprang<br />

und dann verstört im Haus herumlief. Es war schwer, sie zu überwältigen. Sie bekam vom herbeigerufenen<br />

Tierarzt eine Beruhigungsspritze, rannte aus dem Haus auf ein benachbartes Grundstück,<br />

fiel dort ins Gras und schlief ein. Der Bauer nahm sein Handy aus der Hosentasche und zeigte eine<br />

Fotografie von der Kuh im Wohnzimmer. Nach dem Essen las Karl im Roman. Er hatte seit Jahren<br />

keinen Roman mehr gelesen. Die Geschichte spielte im 19. Jahrhundert, in einem Eifeldorf, in dem<br />

ausschließlich Frauen, Kinder und Alte lebten. Die jungen Männer arbeiteten monatelang in den Städten<br />

des Ruhrgebiets und kamen nur zur Erntezeit für einige Wochen nach Hause. Julia zapfte Bier hinter<br />

der Theke. Sie erschien ihm älter, als er sich selbst vorkam. Als Julia an seinen Tisch trat, sagte er, er<br />

gehe spazieren und komme später wieder. Er ließ das Buch auf dem Tisch liegen.<br />

Lastwagen brausten die Straße entlang. Die Tankstelle mit dem Bistro am Ende des Dorfes hatte die<br />

ganze Nacht geöffnet. Im Bistro kaufe Karl einen Kaffee und setzte sich an einen Tisch auf der Veran -<br />

da. Immer noch hörte man leises Kranichrufen, ohne die Tiere in der Dunkelheit sehen zu können. Die<br />

Leute strömten in den Abendstunden in den Supermarkt auf der anderen Straßenseite. Sie tankten,<br />

nachdem sie ihre Einkäufe verstaut hatten, ihre Autos, denn in Grenznähe gab es billigeren Diesel.<br />

Karl fragte sich, ob er hier Arbeit bekommen würde, überlegte, wie lange er täglich in der Tankstelle<br />

oder im Supermarkt arbeiten müsste, um hier leben zu können. Vielleicht könnte er auch den Bauern<br />

bei der Ernte helfen. Er fragte sich, warum er nicht bereits vor dreißig Jahren hierhergekommen war,<br />

damals, als er Julia vermisst hatte. Der Junge, den er in Kall mit dessen Mutter gesehen hatte, kam<br />

mit zwei älteren Männern auf die Veranda und setzte sich mit ihnen an einen Tisch. Der Junge hatte<br />

ein Fernglas um den Hals hängen. Die beiden Männer trugen teure Fotoapparate, die sie behutsam<br />

vor sich auf den Tisch legten. »Über tausend Kraniche habe ich gezählt«, sagte der Junge. »Du müss -<br />

test eigentlich längst schlafen, morgen ist doch deine Prüfung«, sagte einer der Männer. Sie wollten<br />

statt in ihren Betten einige Stunden im Auto schlafen, um in der Nähe der Kraniche zu sein, die sie<br />

im Morgengrauen beobachten und fotografieren wollten. »Mein Enkel schafft das schon, der ist klüger<br />

als die anderen«, sagte der ältere der beiden Männer. »Er ähnelt seinem Großvater, der hat auch<br />

immer alles notiert und keine Fotos gemacht, er meinte, beim Ansehen einer Fotografie würde er<br />

sich weniger an die Dinge erinnern, als wenn er sie niederschriebe.« Es regnete jetzt und der Mann<br />

sagte, die Wolken bildeten sich am Tag über der belgischen Küste, stiegen auf und trieben zur Gren-

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