Literarischer Rettungsschirm.pdf - Internationales Literaturfestival ...
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12. INTERNATIONALES LITERATURFESTIVAL BERLIN EUROPE NOW<br />
LINDITA ARAPI<br />
EUROPA – IMMER DAS BESSERE ALS WIR<br />
EINE REFLEXION [JUNI 2012]<br />
Es gab eine Zeit, in der Europa wie ein weit entfernter Planet war, vom Schleier des Unerreichbaren<br />
um hüllt, bekannt einfach als eine geografische Angabe auf der Weltkarte. Es war der andere, mit<br />
Menschen bevölkerte Planet, die womöglich wie wir aussahen, sicherlich aber schönere Gestalten,<br />
klügere, vollkommener nach Parfüm riechende Kreaturen und ohne Zweifel bessere Menschen. Das<br />
Wir lebte in einem Open-Air-Gefängnis mit einer Fläche vom 28.748 Quadratmetern. Die Mauer rund -<br />
um hoch, den Rest der Welt sahen wir nur als Himmel. Wir starrten keine Löcher, wir malten in den<br />
Himmel unseren Traum von Europa. Harmlos, wie ein menschlicher Traum im Grunde ist, würdig, solange<br />
er keine Träumerei wurde.<br />
Das Wir waren die Albaner, die mit dem Rest des Kontinents etwas gemeinsam hatten, die Vorstellung<br />
des anderen Planeten voneinander. Nachdem die Mauern um uns gefallen waren, wurde dieser Traum<br />
in einem Satz laut ausgerufen: »Wir wollen Albanien wie Europa.«<br />
Wie ein Europäer aussah, konnten wir nicht wissen. Auch heute noch weiß man nicht, wie er aussieht.<br />
Wir erträumten ihn nur, tun es heute noch, das Ideal des Europäers und des Europa, das immer<br />
noch nicht eine Realität ist: Ein freier Mensch, der nicht nur frei reist, sondern von den Schranken<br />
der Unmündigkeit befreit ist, selbstverständlich ein Demokrat, zivilisiert, willensfrei und urteilsfähig.<br />
Ein kritisch hinterfragender Bürger. Er ist ein Optimist, weil sein Europa ihm Chancengleichheit sichert.<br />
Der erträumte Europäer ist tolerant – und das ist nicht eine Überlegenheitsgeste gegenüber Flüchtlingen<br />
und Schwächeren, sondern seine Überzeugung. Weil er selbst viele Möglichkeiten hat, schließt<br />
er sie nicht für andere aus. Der Europäer ist nicht ausländerfeindlich, weil seine Wurzeln vielfältig<br />
und breit sind. Er ist Christ, aber warum soll er auch nicht Muslim sein? Ihm schmeckt das Leben<br />
wie einem Franzosen und er kann ernsthaft wie ein Deutscher arbeiten, aber warum soll er nicht wie<br />
ein Italiener fühlen und wie ein Grieche feiern? Er kann viele Sprachen sprechen, dennoch haben sie<br />
alle einen Klang, europäisch. Er kann in Amsterdam, Stockholm, Lissabon, München, Warschau und<br />
überall leben, weil seine Heimat Europa ist und nicht die Europäische Union. Wenn es in seinem Eu -<br />
ropa turbulent zugeht, dann geht es ihm nicht gut. So viel zum Traum!<br />
Als der Moment kam und der Planet Europa erreichbar wurde, wollten wir, die Albaner, es sehen, sei -<br />
ne mächtigen Länder, die über unser Schicksal entschieden haben, besuchen. Wir wollten seine berühmten<br />
Städte berühren, seine Menschen kennenlernen, egal wie, ohne zu merken, dass man nicht<br />
sehr willkommen war. Der Drang war so stark, dass manche Schiffe Richtung Europa enterten, manche<br />
überquerten das Meer mit Booten, andere durch falsche Pässe und wiederum andere bezahlten<br />
den Traum mit ihrem Leben. Nur wenige waren die Glücklichen, die ganz normal an den Toren Euro -<br />
pas klopften, von einem Polizisten gemustert wurden, bevor man mit einem Nicken die Tore öffnete.<br />
Danach wurden die Tore wieder geschlossen. Europa war und blieb ein Traum für zwanzig Jahre.<br />
Die europäische Luft wollten wir einatmen, als wäre sie die bessere Luft, die die Gesichter verändern<br />
und uns zu anderen Menschen machen konnte, mit mehr Wohlwollen von Europa akzeptiert zu werden.<br />
Ein Albaner mit europäischem Gesicht hieß, eine Stufe höher auf dem Weg der Zivilisierung zu<br />
kommen, verglichen mit einem, dessen Gesicht Furchen der fast fünfzig Jahre Armut und Minderwer -<br />
tigkeit trug. Ja, wir wollten angenommen werden. Wir wollten dazugehören und nicht mehr die Aussätzigen<br />
am letzten Winkel sein.<br />
Europa war und ist eine nationale Sehnsucht! Geografisch lagen wir unmissverständlich im gelobten<br />
Land, umgeben waren wir auch von europäischen Nachbarn, dennoch fragten und fragen wir uns<br />
selbst ständig wie kein anderes Nachbarvolk: Sind wir Europäer oder Halbeuropäer und Halborientalen?<br />
Sind wir vielleicht Orientalen? Sind wir genug europäisch? Sollten wir uns noch mehr europä -<br />
ische Eigenschaften aneignen?<br />
Die Unsicherheit resultiert in zwei Arten von Antworten: Die eine ist eine mythische, gern übersteigert,<br />
um das Selbstwertgefühl zu stärken. Diese Antwort erlaubt nicht gern kritische Hinterfragungen nach<br />
dem albanischen Selbstverständnis, weil die Fragen sich gar nicht stellen. Weil wir ja Europa waren,<br />
als es Europa noch nicht gab. Wir sind ein altes, zivilisiertes Volk, Pelasger, Illyrer, wir verkehrten mit<br />
den Römern und haben Europa im Mittelalter den christlichen Kämpfer Skanderbeg gegeben, der die<br />
osmanische Invasion Richtung Europa aufgehalten hat. Somit sind wir Märtyrer Europas. Zwar haben<br />
wir muslimisches Erbe in unserer Kultur, unsere Identität ist dennoch europäisch geprägt. Das Erbe<br />
der Diktatur schütteln wir schnell ab von uns, damit wir ungehindert zu reinen Demokraten wachsen.