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Literarischer Rettungsschirm.pdf - Internationales Literaturfestival ...

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12. INTERNATIONALES LITERATURFESTIVAL BERLIN EUROPE NOW<br />

PEDRO ROSA MENDES<br />

TRÄUMEND AN EUROPAS TÜR<br />

Ende der siebziger Jahre war »Europa« ein Haus mit vorhersehbaren Gewohnheiten beziehungsweise<br />

festen Öffnungszeiten. Wenn ich mich recht erinnere, schloss es seine Tore um 10 Uhr abends und<br />

öffnete sie erneut um 6 Uhr morgens. Zumindest als Kind hatte ich diesen Eindruck, bestätigt durch<br />

die Nächte, die wir im Niemandsland zwischen dem Zoll von Vilar Formoso und Fuentes de Oñoro<br />

verbrachten, dem Hauptgrenzübergang zwischen Portugal und Spanien. »Europa« war verbunden mit<br />

dieser diffusen Zeit: der Zeit des Wartens. Damals wartete man zugleich auf den Morgen und das<br />

Morgen. Das Morgen und die Grenze verschmolzen miteinander, wurden zu einer Art Schwelle, einem<br />

Ort, weder innen noch außen, da er genau jenes unsichtbare Gebiet des Hindurchs ist. In diesen unterbewussten<br />

Zuständen wohnen die Träume. Ich komme aus einem Land, in dem die Grenze vor<br />

noch nicht allzu langer Zeit [der Zeit meiner Eltern] ein existenzielles Thema war: springen oder bleiben,<br />

springen oder sterben, springen oder verzichten?<br />

Die Zeit meiner Kindheit und Jugend war ein kurzes Hindurch in einer neunhundertjährigen Geschichte,<br />

eine diffuse Passage zwischen zwei Abkürzungen, dem PREC1 und der EWG. Ich gehöre der Ge -<br />

ne ration an, die in Portugal weder die Mutter noch das Kind der Demokratie ist. 1968, unter der Diktatur,<br />

geboren, kam ich 1974, im Jahr der Nelkenrevolution, in die Schule und begann 1986, im Jahr<br />

von Portugals Beitritt zur Europäischen Union, mein Universitätsstudium. Historisch gesehen hat mei -<br />

ne Generation nichts zuwege gebracht, obgleich sie mit allem gesegnet ist: mit Freiheit, Demokratie<br />

und Wohlstand – kurz gesagt, mit »Europa«. Mit diesen Segnungen bestens versehen, stellen wir uns<br />

selten oder so gut wie nie die Frage, ob Portugal sich nicht vielleicht besser aus der Affäre hätte ziehen<br />

können.<br />

Hindurch ist kein Ort und zugleich die Möglichkeit aller Orte: eine Hoffnung, eine Prophezeiung, eine<br />

Lüge. Man ist noch nicht dort, aber dort ist schon hier. Es ist ein Schlaf und ein Unterbrechen dieses<br />

Schlafes, die Schwelle zwischen Traum und Bewusstsein. Auf den Rücksitz unseres Wagens gekuschelt,<br />

fuhr ich manchmal so verwirrt aus dem Schlaf hoch wie jemand, der beim Aufwachen nicht<br />

gleich weiß, wo er sich befindet,<br />

– Sind wir schon da?<br />

draußen war es dunkel, bis auf die Neonlichter der Läden, in denen man Karamellbonbons und Sevilla -<br />

puppen kaufen konnte und aus denen mein Vater mit Chorizo, Serranoschinken, anderen »Tapas«<br />

und einer Flasche Orangeade Marke La Casera zurückkam,<br />

– Noch nicht, träum noch ein bisschen,<br />

hinter uns stauten sich die Wagen in einer langen Schlange, irgendwo vor uns befand sich der Zollposten,<br />

wo im brenzligsten Moment der Reise, nämlich wenn es zurück nach Hause ging, ein Mann<br />

in Uniform, dessen Beruf das Misstrauen war, in jeden Wagen hineinfragte:<br />

– Etwas zu verzollen?<br />

ja, was könnte es denn zu verzollen geben, Herr Zollwachtmeister, eine Flasche Whiskey?, ein tragbares<br />

Tonbandgerät?, eine Kaffeemaschine?, unbedeutende Luxusartikel, erstanden auf einem der<br />

obligaten Streifzüge durch die Läden von Andorra,<br />

– Wir waren mit dem Jungen in einer Klinik in Barcelona.<br />

ja, was könnte es denn geben im Auto einer Familie der Mittelklasse?, keine Mittelklasse in Europa,<br />

sondern in Portugal, mittelmäßig besorgt, mittelmäßig ärztlich versorgt, mittelmäßig ehrfurchtsvoll,<br />

was an »Schmuggelware« könnte es geben?

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