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Literarischer Rettungsschirm.pdf - Internationales Literaturfestival ...

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ADRIAAN VAN DIS ,EUROPE NOW<br />

Frage geführt: »Was heißt es heute, französisch zu sein?« Die Franzosen fühlten sich offenbar bedroht.<br />

Die Migration und die Globalisierung waren die großen Bösewichte, aber auch Google, Hollywood<br />

und McDonald’s. [In Frankreich gibt es die meisten Macdo-Filialen von ganz Europa.] Sarkozy hatte<br />

gut zugehört und meldete die französische Küche als bedrohtes kulturelles Erbe bei der Unesco.<br />

In den Niederlanden packte man es schlichter an: Jedes Problem wurde islamisiert. Verbrechen, Pro -<br />

blemkieze, schlechter Unterricht – an allem war der Islam schuld. [Schon vorher hatte der 2002 ermordete<br />

Politiker Pim Fortuyn den Islam als »zurückgebliebene Religion« bezeichnet.] Die Linke ha be<br />

zu lange zu viel schöngeredet. Die multikulturelle Gesellschaft sei eine Farce. Auch die Niederländer<br />

müssten besser wissen, wer sie eigentlich seien. Akademiker entwickelten einen literarischen und<br />

historischen Kanon. Bücher und Fakten, die man als Niederländer zu kennen habe. Städte schlossen<br />

sich an. Und die Bibel wurde in Twenter Dialekt übersetzt. Not lehrt beten.<br />

Ich beobachtete das alles – aus der Distanz, von meiner Mansarde aus, fünfter Stock, über den Zink -<br />

dächern von Paris. Meine neue Stadt verweigerte den Kopftüchern den Zutritt zu öffentlichen Gebäuden.<br />

Die Burka wurde verboten und ich sah an Freitagnachmittagen Hunderte von Männern auf<br />

der Rue de la Poissonnière beten, weil der Bau von Moscheen bürokratisch verschleppt wurde.<br />

Nach Fortuyn bekamen die Niederlande eine neue Partei mit einem einzigen Programmpunkt: dem<br />

Islam. Mit einem Schlag wurde sie zur zweitgrößten Partei des Landes. Nein, ich nenne den Namen<br />

des blond gefärbten Führers nicht.<br />

Und dann kam die Finanzkrise. Banken gerieten ins Wanken. Offenbar hielten sich nicht alle Länder<br />

an die finanziellen Vorschriften. Die Portugiesen, die Italiener, Griechen, Spanier. Die PIGS. Die Knob -<br />

lauchländer. Der Euro steht schwer unter Druck. Unsere Renten drohen sich in Luft aufzulösen! Brüssel<br />

fordert Geld und Solidarität von den nördlichen Ländern. Der niederländische Staat bürgt, aber die<br />

Bürger murren. Der große blonde Führer fand einen neuen Buhmann: Brüssel. Kein Cent mehr für die<br />

Knoblauchfresser! Wir wollen unseren Gulden wiederhaben! Macht die Grenzen zu! [Und der Islam<br />

kam auf die Reservebank.]<br />

Nicht nur äußerst rechts, auch äußerst links fängt man jetzt mit einem Anti-Europa-Programm Stimmen.<br />

Laut Wahlprognose werden die zwei größten politischen Parteien in den Niederlanden antieuropäisch<br />

sein. Die Niederlande verrammeln ihre Fenster. Erst mal sind wir dran! Die Niederlande den Niederländern!<br />

Ich habe auch einen Traum: den vom Ende des Nationalstaats. Der Nationalstaat, der gerade jetzt mit<br />

so viel Wehmut und Romantik besungen wird. [Der Historiker H. W. von der Dunk schrieb am 5. Juli<br />

2012 darüber im »NRC Handelsblad«.]. Der Nationalstaat ist auch nur eine Konstruktion, oftmals von<br />

oben auferlegt, häufig nach blutigen Kämpfen und auf Kosten regionaler Identitäten und Dialekte wie<br />

Friesisch, Bretonisch, Katalanisch und Baskisch. (Es ist übrigens zu beobachten, dass in einem vereinten<br />

Europa das Interesse an diesen Sprachen wieder auflebt.] Nationalgefühl ist angelernt, wie intensiv<br />

es auch erfahren wird. Ist die Verherrlichung des Nationalstaats nicht ein Aufbäumen, ein letzter<br />

Widerstand gegen die Folgen von Migration und Globalisierung? Nationale Gefühle gehen durch<br />

das Ende des Nationalstaats nicht verloren, dafür wurden Fußballstadien gebaut und auch die Welt<br />

des Internets bietet dafür Raum. Dasselbe Internet, das unsere Grenzen verwischt.<br />

Auch Kultur ist oft grenzüberschreitend. Literatur kann größer sein als eine einzige Sprache. Ibsen ist<br />

größer als Norwegen. Beethoven gehört uns allen. Europäer haben ein gemeinsames kulturelles Erbe.<br />

Mehrstaatlichkeit ist meine Identität. Ich glaube an Vermischung und Verfärbung. Und wer nicht da -<br />

ran glaubt, muss die Augen weiter aufmachen. Das multikulturelle Europa ist schon längst ein Fakt,<br />

ob es uns nun passt oder nicht. Auch die Migranten, die heute noch ein eingefrorenes Bild von ih -<br />

rem Land im Kopf haben und ihre Satellitenschüsseln auf antike Anschauungen richten, werden nach<br />

drei, vier Generationen Europäer sein.<br />

Migranten wissen, was Diskriminierung ist. Ihre Zuflucht muss größer sein als ein einziges Land. Ein<br />

Land ist zu verwundbar, ein einziger unberechenbarer Machthaber kann ein ganzes Volk zwingen, sich<br />

zu beugen. Sehen Sie nur, wie sich halb Holland verbeugt. Allein ein mehrstaatliches Europa kann<br />

Schutz bieten. Natürlich tut die Transformation weh. Und sie wird viel kosten. Aber es bleibt uns nichts<br />

anderes übrig. Vaarwel Nederland. Auf Wiedersehen Deutschland. Au revoir France. Hallo Europa.

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