Literarischer Rettungsschirm.pdf - Internationales Literaturfestival ...
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FLAVIO SORIGA ,EUROPE NOW<br />
talen Balkon herab eine Ansprache an die Massen halten. Und wir Indianer aus der Provinz, wir Schrift -<br />
steller mit mehr oder weniger lauter Stimme, wir können in unseren Erzählungen und auf den Festivals,<br />
wo wir zu Gast sind, nur immer wieder unsere kleinen, unsicheren Wahrheiten vorbringen. Wäre<br />
ich also in der Nachkriegszeit Schriftsteller gewesen und hätte etwas über die Lage Europas schreiben<br />
sollen, dann hätte ich gesagt, dass niemand die Deutschen anrühren soll. Dass nur ja niemand<br />
denken soll, das unendliche Leid, das eine Gruppe psychotischer Regierender der Welt angetan hat,<br />
müsse vergolten werden, müsse dem Schneider aus Frankfurt, dem Landwirt aus München oder sei -<br />
ner Frau, die zwei Söhne verloren hat, heimgezahlt werden, all den einfachen Leuten, die den Krieg<br />
durchgemacht haben. Dass niemand die in Deutschland lebenden Menschen mit dem deutschen<br />
Volk verwechseln darf. Und wenn ich heute etwas über Europa sagen soll, dann ist es mehr oder<br />
minder dasselbe: dass es kein Volk von Südländern gibt, das in Saus und Braus lebte, während die<br />
fleißigen Völker des Nordens eifrig gearbeitet haben.<br />
Mein Onkel, der sein ganzes Leben in der Fabrik malocht hat, genauso wie ein Arbeiter in Stuttgart,<br />
nur mit weniger Lohn als ein Arbeiter in Stuttgart, mein Onkel hat nicht, wie einige Leute bei der EZB<br />
denken, über seine Verhältnisse gelebt. Er hat nie eine Boutique betreten, nie einen Mercedes gekauft,<br />
sein Haus hat er nach seinen Möglichkeiten gebaut. Mein Vater, der sein ganzes Leben lang italienischer<br />
Staatsangestellter war, ohne je eine Krankheit vorzuschützen, ohne je einen Tag blauzumachen,<br />
mein Vater ist kein reicher italienischer Prasser, der die Ersparnisse der Holländer aufgezehrt hat, Italiens<br />
Bevölkerung ist kein Volk von Nichtstuern, das italienische Volk gibt es nicht: Es gibt Italiener, die<br />
arbeiten und Steuern zahlen, und hartgesottene Steuerhinterzieher, Italiener, die ihre Schulden zurückzahlen,<br />
und ausgekochte Betrüger, nicht anders als in Deutschland, in Portugal und in London.<br />
Es gibt kein tüchtiges deutsches Volk, das sich gegen ein griechisches Volk wehren muss, welches<br />
wiederum für seine Fehler und Mogeleien bezahlen muss, genauso wenig, wie es je ein Volk gegeben<br />
hat, das als Ganzes für die Kriegsverbrechen seiner Regierenden einzustehen hätte: Jeder hat seine<br />
eigenen, persönlichen Fehler und nur für die muss er bezahlen.<br />
Und wenn man ein großes, freundliches, friedliches Vaterland bauen will, ein besseres als die Länder,<br />
an deren Stelle es treten könnte, wenn man so etwas wie ein europäisches Vaterland bauen will, dann<br />
müsste man vor allem eins tun: die Kriegsphrasen, ihre Rhetorik – das Gerede von Griechen gegen<br />
Deutsche, Den-Gürtel-enger-Schnallen, verstärkten Sparanstrengungen, Revanche –, müsste all die se<br />
Kampfblattphrasen ad acta legen. Andernfalls, wenn es Europa nicht geben wird, kehre ich eben in<br />
die Camps in meinem Reservat zurück. Irgendwie werde ich mich mit meinem kleinen Volk auf der<br />
großen Insel schon durchschlagen. Wenigstens werden wir im Sommer ans Meer gehen und in Richtung<br />
Afrika schauen. Wie wir es im Grunde immer gemacht haben.<br />
Uta, 1. August 2012<br />
[Übersetzt aus dem Italienischen von Martina Kempter]