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Literarischer Rettungsschirm.pdf - Internationales Literaturfestival ...

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12. INTERNATIONALES LITERATURFESTIVAL BERLIN EUROPE NOW<br />

MICHAIL SCHISCHKIN<br />

TOK-TOK, WER WOHNT IM TEREMOK?<br />

Jeder Russe kennt seit Kindertagen das Märchen vom »Teremok«, vom Häuschen im Wald. Es ist ein<br />

kleines, behagliches Häuschen, in dem die Tiere wohnen. Da kommt zum Beispiel der Frosch Quak,<br />

klopft an die Tür und spricht: »Tok-tok! Wer wohnt im Teremok? Lasst mich ein und bei euch wohnen!«<br />

Man lässt ihn ein und alle haben es drinnen gemütlich. Ebenso werden die Haselmaus und der Hahn<br />

Kikeriki eingelassen – für alle ist im Häuschen Platz. Dann kommt der Bär. Wie das Märchen endet,<br />

erzähle ich später.<br />

Europa erinnert sehr an dieses Tierhäuschen. Es ist gemütlich und nett, alle möchten hinein. Es geht<br />

zwar eng zu, aber politisch korrekt. Man zankt sich gelegentlich mit den Nachbarn um die Schulden,<br />

aber was sich liebt, das neckt sich eben. Denn die europäischen Tiere wissen genau: Die Deutschen<br />

haben viel Geld, es reicht für alle. Kurzum, im Häuschen sind alle miteinander vertraut. Aber ist es<br />

auch der Bär? Man lebt schließlich im selben Wald … Doch dieser Bär hat eine rätselhafte Seele.<br />

Man weiß nicht, was er ausheckt. Und wie er riecht …<br />

Mischka, den Bären, quälen sein Leben lang Zweifel: Ist er nun Europäer oder doch keiner? Der Wald<br />

ist natürlich derselbe, aber der Bär geht einen Sonderweg. Er ist irgendwie seltsam – kein Tier, eher<br />

Hamlet. Mal zermalmt und frisst er alle um sich herum, dann wieder fällt er in tiefen Schlaf und quält<br />

sich mit Reue und Grübelei. Und will mit aller Macht die Welt retten. Im Schlafen wie im Wachen<br />

dünkt ihn, seine Höhle sei das Dritte Rom, multipliziert mit der Dritten Internationalen. Er dichtet:<br />

»Alle wissen, dass die Erde am Kreml beginnt.« Und leidet ohne Ende: Mal hat er Sodbrennen vom<br />

Größenwahn, mal Verdauungsstörungen vom Minderwertigkeitskomplex.<br />

Nach den Tataren war Europa der Feind Nummer eins für Russland.<br />

Peter der Große hatte keineswegs vor, das Reich im Hinterland des Kontinents zu »europäisieren«. Er<br />

brauchte die westliche Militärtechnik, um mit ebendiesem Westen Krieg zu führen. Doch mit dem Zu -<br />

strom der »Gastarbeiter« vom Rhein an Newa und Moskwa begann notgedrungen die Wertediffusion.<br />

Unter den Block des totalitären russischen Bewusstseins wurde eine Zeitbombe gelegt – das Primat<br />

der Werte des Privatlebens.<br />

Das nichttotalitäre Bewusstsein findet seinen Ausdruck in der Literatur, die im 18. Jahrhundert zusam -<br />

men mit der Idee der Menschenwürde aus dem Westen kommt. Das erste Jahrhundert der russischen<br />

Literatur ist im Grunde von Übersetzungen und Nachahmungen bestimmt. Um das individuelle Bewusstsein<br />

auszudrücken, fehlt das verbale Instrumentarium. Man muss es erst erzeugen. Die in die<br />

russische Sprache hineingeborenen Schriftsteller führen die fehlenden Begriffe ein: Gesellschaft, Ver -<br />

liebtheit, Menschlichkeit, Literatur.<br />

In Russland entsteht individuelles Bewusstsein und die klügsten Köpfe blicken sich um, erschrecken<br />

und überlegen: Wer sind wir? Woher kommen wir? Warum sind wir Sklaven?<br />

Pjotr Tschaadajew verblüffte die im Entstehen begriffene Gesellschaft mit einer einfachen Idee: Die<br />

Russen sind kein von Gott auserwähltes Volk. Russland ist nicht das Dritte Rom, sondern ein Missverständnis.<br />

Das Unglück des Vaterlandes bestehe darin, schrieb er in einem offenen Brief auf Französisch<br />

an eine Dame, dass wir nicht den römisch-katholischen, sondern den byzantinisch-orthodoxen<br />

Glauben angenommen und uns damit von Europa und seiner historischen Entwicklung abgeschnit ten<br />

hätten. Die Zeitschrift musste ihr Erscheinen einstellen, der Herausgeber Nadeschdin wurde verbannt<br />

und Tschaadajew auf Befehl des Monarchen für verrückt erklärt. Doch die »Philosophischen<br />

Briefe« des Verrückten aus Moskau erschienen im damaligen Samisdat und wurden zur Grundlage<br />

für eine der beiden Hauptrichtungen des russischen Denkens – des »Westlertums«. Der Kampf auf<br />

den ideologischen Barrikaden ist bis heute nicht zum Erliegen gekommen, die russische Hauptfrage<br />

ist immer noch nicht beantwortet: War die ganze russische Geschichte eine Sackgasse, müssen wir<br />

zu den europäischen Werten und in den Schoß der europäischen Zivilisation zurückkehren oder geht<br />

Russland einen Sonderweg?<br />

In Russland ist seither eine einzigartige Situation entstanden. Zwei geistig und kulturell vollkommen<br />

verschiedene Nationen teilen sich dasselbe Territorium, obwohl die eine wie die anderen Russen<br />

sind und dieselbe Sprache sprechen. Der eine Teil des Volkes lebt hauptsächlich in der Provinz – er

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