Literarischer Rettungsschirm.pdf - Internationales Literaturfestival ...
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12. INTERNATIONALES LITERATURFESTIVAL BERLIN EUROPE NOW<br />
BEQË CUFAJ<br />
AUFSÄTZE FÜR BRÜSSEL<br />
Kreshnik ist ein Achtzehnjähriger und lebt in Prishtina, der Hauptstadt des Kosovo. Ich kenne ihn nicht<br />
persönlich, erhalte aber hin und wieder Post von ihm. Als treuer Leser der kosovarischen Tageszeitung,<br />
für die ich eine wöchentliche Kolumne verfasse, hat er sich angewöhnt, mir seine Meinung zu<br />
meinen Texten zu sagen.<br />
Vor einigen Monaten, genauer gesagt im Mai, habe ich von Kreshnik einen elektronischen Brief bekom -<br />
men, in dem es nicht um Zeitungsthemen ging. Vielmehr bat er mich um meinen Kommentar zu ei -<br />
nem eigenen Text, den er beigelegt hatte. Es handelte sich um einen Aufsatz: seinen Beitrag zu einem<br />
Wettbewerb, der vom kosovarischen Bildungsministerium für Schüler in den Abschlussklassen der<br />
kosovarischen Oberschulen ausgeschrieben worden ist.<br />
Das Aufsatzthema lautet: »Der Balkan in der Europäischen Union«. Den fünf Siegern des Wettbewerbs<br />
winkt als Preis eine einwöchige Reise nach Brüssel. Die Gastgeber aus der europäischen Hauptstadt<br />
sorgen für das Visum, die Unterbringung und Verpflegung der Preisträger und geben ihnen die Möglichkeit<br />
zu Besuchen in wichtigen europäischen Einrichtungen.<br />
Kreshniks Aufsatz hat mich beeindruckt. Nicht nur, weil der Verfasser sich erstaunlich gut informiert<br />
zeigt, sondern auch, weil er klare Vorstellungen entwickelt, was den Zeitpunkt und die Bedingungen<br />
einer Integration des Kosovo in die Europäische Union anbelangt. Kreshnik meint, dass die Völker<br />
und Länder der Region zunächst ihre regionale Zusammenarbeit verstärken und Brücken untereinander<br />
schlagen müssen, wenn sie die Forderungen, die Brüssel stellt, erfüllen wollen. Und er scheut<br />
sich auch nicht, ein Problem anzusprechen, das man auf dem Balkan gerne von sich herschiebt: die<br />
allumfassende Herrschaft von Korruption und organisierter Kriminalität.<br />
Ich las den Aufsatz ein zweites Mal und fand meinen ersten Eindruck bestätigt: dass nämlich dieser<br />
Achtzehnjährige offenbar eine weit klarere Vorstellung von den Erfordernissen der europäischen Integration<br />
hat als die erdrückende Mehrheit derer, die sich als politische Klasse des Kosovo verstehen.<br />
Bleibt die Frage, wie viele Altersgenossen Kreshniks es geben mag, die ähnlich gut wie er über die<br />
EU informiert sind und die Notwendigkeit von Integrationsschritten in der Region als Vorbedingung<br />
für die Annäherung an Europa so klar sehen wie er.<br />
Darauf ging ich in meiner Antwort an Kreshnik aber nicht ein. Ich beschränkte mich darauf, ihm zu sei -<br />
nem Aufsatz zu gratulieren und ihm viel Glück für den Wettbewerb zu wünschen.<br />
Er bedankte sich für das Lob, war aber nicht sehr optimistisch, was eine Auszeichnung anbetraf: »die<br />
dort oben«, also die Bürokraten im Kulturministerium und in der Auswahlkommission, würden schon<br />
dafür sorgen, dass die Preise an Bekannte gingen. Ich zog es vor, keinen weiteren Kommentar dazu<br />
abzugeben.<br />
Was hätte ich ihm auch sagen sollen? Dass es nun einmal nicht einfach ist, wenn man in der ärmsten<br />
und korruptesten Region Europas lebt? Dass seine Generationsgenossen aus Polen, Tschechien,<br />
Ungarn oder der Slowakei, aber auch Rumänien und Bulgarien – also fast Balkan – in einem Europa<br />
leben, in das er, den Sieg im Aufsatzwettbewerb vorausgesetzt, für eine Woche hineinschnuppern<br />
dürfte?<br />
Kreshniks Geschichte erinnert mich an meine eigene. Ich war ungefähr in seinem Alter, als die Bürger<br />
Ex-Jugoslawiens Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts neue Urlaubsländer<br />
für sich zu entdecken begannen. Titos Staat war sozusagen das Paradies unter den sozialistischen<br />
Ländern. Der Alte, wie ihn ein paar unverbesserliche Nostalgiker noch immer zu nennen pflegen, hat -<br />
te feste Beziehungen zum Westen hergestellt, was den Bürgern seines Staates unter anderem auch<br />
Visumsfreiheit bei Reisen in westliche Staaten einbrachte. Zugleich wurden aber auch die nach dem<br />
Bruch mit der Sowjetunion eingeschlafenen Kontakte zu einigen Ostblockländern wiederbelebt: der<br />
[damaligen] Tschechoslowakei, Polen und Ungarn.<br />
Ich werde nie vergessen, wie ein paar meiner Lehrer nach der Rückkehr von einem Besuch in Polen<br />
von diesem »billigen« [nicht »armen«] Land schwärmten, denn sie hatten dort gewissermaßen als<br />
reiche Touristen auftreten und in den Geschäften Dinge einkaufen können, die für ihre einheimischen<br />
Kollegen absolut unerschwinglich waren.<br />
Zwanzig Jahre später haben sich die Verhältnisse umgekehrt. Polen wurde untrennbarer Bestandteil<br />
Europas, während es den Menschen in den Staaten, die aus dem ehemaligen Jugoslawien hervorgegangen<br />
sind, in der Regel schlechter geht als den Polen damals in den achtziger Jahren.