Literarischer Rettungsschirm.pdf - Internationales Literaturfestival ...
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ANATOLIJ GRINVALD EUROPE NOW<br />
6. Wir, die Europäer<br />
Nichts bindet die Menschen stärker zusammen als gemeinsame Arbeit. Blut und Schweiß. Blut von<br />
den geplatzten Schwielen an den Händen. Schweiß [in Kasachstan haben wir im Winter oft eine Tem -<br />
peratur von minus fünfundvierzig Grad und der Schweiß gefriert im Gesicht zu einer dünnen Kruste].<br />
Da war es absolut egal, wer du bist: ein Russe, ein Kasache oder ein Deutscher. Der Arbeitseifer ver -<br />
band alle miteinander. In Deutschland herrscht Arbeitslosigkeit. Ein guter Teil der Russen, der Türken,<br />
der Deutschen sitzen zu Hause und hassen einander im Stillen. Die Deutschen hassen die anderen<br />
im Stillen dafür, dass sie Arbeitslosengeld kassieren. Wenn die anderen jedoch arbeiten gehen, dann<br />
heißt es, dass sie den Deutschen ihre Arbeitsplätze wegnehmen. Die anderen mögen die Deutschen<br />
nicht, weil diese so arrogant sind. Und auch nicht besonders kontaktfreudig. Ja, Deutschland ist ei -<br />
ne geschlossene Gesellschaft. Die Fremden stehen verzweifelt im Abseits und rauchen. Verrauchen<br />
das ganze Geld der arbeitenden deutschen Steuerzahler. Und der Ausweg? Du glaubst, ihn gefunden<br />
zu haben: ein vierstündiger Arbeitstag. Zumal eine Volksweisheit sagt, die Sklaverei sei nicht aufgehoben,<br />
sondern lediglich durch achtstündige Arbeitstage ersetzt worden. Natürlich wurden über den<br />
vierstündigen Arbeitstag bereits unzählige Bücher geschrieben, die alle Vor- und Nachteile aufzeigen.<br />
Für den größten Vorteil hältst du zum Beispiel das inflationäre und abgenutzte Wort »Integration«.<br />
Und wenn der Strom der Emigranten und Aussiedler aus Osteuropa allmählich nachlässt, so wird doch<br />
die Flut der Leute aus Afrika und dem Nahen Osten größer und größer. Aber Gott sei Dank bist du<br />
kein Politiker.<br />
Europa will ein gemeinsames Haus Europa errichten. Die Geschichte kennt da einige Präzedenzfälle.<br />
Der älteste ist wohl der Turmbau zu Babel. Was Gott damals tat, das wissen wir alle. Nun, solange<br />
Europa keine einheitliche Staatssprache hat, wird daraus nichts werden. Dasselbe betrifft die Identität.<br />
Solange in deinem Ausweis steht, du bist ein Deutscher, ein Franzose, ein Türke oder ein Russe,<br />
wirst du kein Europäer sein. Ja, im Pass sollte »Europäer« stehen. Das ist ein unumgängliches Opfer.<br />
Denn alle Umbrüche geschehen zuerst im Bewusstsein. Dort beginnt auch die Integration eines<br />
jeden einzelnen Staatsbürgers in ein gemeinsames europäisches Bewusstsein.<br />
7. Warum die UdSSR zugrunde ging oder: Hallo, Georgi Petrowitsch<br />
In der UdSSR gab es alles. Fast alles. Es gab eine gemeinsame Sprache, es gab einen gemeinsamen<br />
Glauben – an Lenin und an seine Ideen. Der Glaube an eine ephemere Zukunft unter der Bezeichnung<br />
»Kommunismus« ersetzte den Glauben an Gott. Nur eine Kleinigkeit gab es nicht: Es gab keine<br />
Milch und keine Wurst. Diese Kleinigkeit aber war entscheidend. Du weißt es noch ganz genau, wie<br />
du morgens um fünf aufstehen musstest, um Milch für ein neugeborenes Brüderchen zu kaufen.<br />
Das Geschäft öffnete um sieben, aber es galt, schon viel früher dort zu sein, um sich einen Platz in<br />
der Schlange zu sichern. Denn für alle reichte Milch nur auf dem Papier: Es gab da entsprechende<br />
Tabellen in Erdkunde-Lehrbüchern. Tja, in Wirklichkeit mussten die Menschen draußen bei minus drei -<br />
ßig oder minus vierzig Grad über zwei Stunden lang frieren. Und sobald das Geschäft öffnete, wur de<br />
es im Sturm genommen, wie der Winterpalast 1917. Das Gedränge war derart stark, dass die Blechkanne<br />
deinen noch schwachen neunjährigen Händen von hungernden Volksmassen regelrecht entrissen<br />
wurde, sie verschwand dann im brodelnden Menschenstrudel. Wurst und Butter bekam man nur bei<br />
Vorlage von speziellen Lebensmittelkarten. Ein Kilo Wurst pro Person pro Monat. Und ein halbes<br />
Kilo Butter.<br />
In der Schule warst du ein Politaufklärer. Einige entfernte Verwandte und Freunde der Familie lebten<br />
bereits, trotz des Eisernen Vorhangs, in Deutschland. Und eines Tages [da warst du dreizehn Jahre<br />
alt] führtest du eine Informationsveranstaltung durch, bei welcher du über die Vorzüge des Lebens<br />
im Kapitalismus am Beispiel einfacher Arbeiter sprachst. Eigentlich nichts Besonderes. Du hast bloß<br />
die Einkommenshöhe verglichen sowie einige Kostenfaktoren. Milch, Wurst, Fleisch, Kleidung. Das<br />
Ganze war dann ein Riesenskandal. Man wollte dich gleich der Schule verweisen. Aus dem Bund<br />
der Pioniere rauswerfen. Erschießen, erhängen, in den Gulag schicken. Doch leider warst du noch