Literarischer Rettungsschirm.pdf - Internationales Literaturfestival ...
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12. INTERNATIONALES LITERATURFESTIVAL BERLIN EUROPE NOW<br />
JANNE TELLER<br />
EUROPA –<br />
WER BIST DU? WER MÖCHTEST DU SEIN?<br />
Wir brauchen eine echte europäische Identität, ein Ideal, das Europa heute und in Zukunft zusammen -<br />
hält. Ich schlage vor: diskrete Qualität.<br />
»Wann wird man Europäer? Wie denkt ein Europäer? Wie sieht ein Europäer aus? Wie klingt ein Euro -<br />
päer? Wie riecht, fühlt, schmeckt ein Europäer …?« Das fragt ein Kriegschirurg aus der Karibik in ei -<br />
nem meiner Romane wie ein Echo der Fragen, die ich von vielen Nichteuropäern rund um den Erdball<br />
gehört habe. Unterdessen habe ich so gut wie nie gehört, dass sich Europäer über gemeinsame<br />
Charakteristika Gedanken gemacht haben. Dagegen scheinen wir in ganz Europa – und das leider in<br />
steigendem Maße – davon besessen, unsere nationalen Identitäten zu definieren und zu verteidigen,<br />
ohne zu berücksichtigen, dass das ein überholtes und in die Vergangenheit gerichtetes Bestreben ist,<br />
das im Vorhinein zum Scheitern verurteilt ist, während es einen Glückschrein der Pandora für Extremisten<br />
öffnet, denen die derzeitige Desorientierung ein schönes Leben im Überfluss ermöglicht.<br />
Und was noch schlimmer ist: Es lässt Europas gemeinsame und somit unser aller Zukunft in den Hän -<br />
den von Politikern und Technokraten, die größtenteils bereits demonstriert haben, dass sie – beziehungsweise<br />
das System, in dem sie operieren – sich nicht um unsere Zukunft kümmern können.<br />
Die Wirtschaftskrise – kombiniert mit einem kleinen, aber stetigen Strom von Immigranten und Flücht -<br />
lingen aus weniger wohlhabenden Teilen der Welt – hat den Schleier vor einem Europa gelüftet, das<br />
in den fünfzig Jahren seiner vereinten Existenz nur eine geringe gemeinsame Identität und Solidarität<br />
entwickelt hat. Die Geschichte des Kontinents scheint vergessen und die Führer der europäischen<br />
Staaten verfallen mit wenigen Ausnahmen einer nationalistischen und xenophoben Rhetorik. Es ist<br />
die Intoleranz der radikalen Rechten, angeführt von Leuten wie Marine Le Pen, Geert Wilders und<br />
Pia Kjærsgaard, die die Tagesordnung der Mainstreampolitiker festsetzen, und nicht umgekehrt. In<br />
Teilen Osteuropas haben ehemalige Bürgerrechtsvorkämpfer wie der ungarische Staatsminister Viktor<br />
Orbán und der slowakische Staatsminister Robert Fico die freie Marktwirtschaft so gut studiert, dass<br />
sie kurzen Prozess gemacht haben: die Rhetorik der radikalen Rechten ist heute ihre eigene Machtbastion.<br />
Doch was gaukeln wir uns vor, welche Probleme unsere populistischen Politiker für uns lösen, wenn<br />
sie in die nationalen Exklusionstrompeten blasen – heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts?<br />
Ungeachtet, ob wir das wollen oder nicht, leben wir bereits in einer multikulturellen Welt [sehen Sie<br />
sich um, wenn sich nicht jemand noch einen Völkermord in Europa wünscht, wird sich daran nichts<br />
ändern]. Europas Staaten sind heute so miteinander verflochten und voneinander abhängig, dass<br />
wir keine wesentlichen Probleme in einem Land lösen können, ohne auf Europa als Ganzes zu schauen.<br />
Ob wir das wollen oder nicht, wird der Druck auf Europas Grenzen kontinuierlich zunehmen, solange<br />
es wesentliche Unterschiede im Lebensstandard und in der Sicherheit zwischen uns und anderen Tei -<br />
len der Welt gibt. Ob wir es wollen oder nicht, tragen wir einen nicht unwesentlichen Teil der Verantwortung<br />
für unsere weniger begüterten Mitmenschen, nicht nur weil unser Teil der Welt reicher ist, son -<br />
dern auch weil wir, die Europäer, mit der Globalisierung angefangen haben. Dem jahrhundertelangen<br />
brutalen Kolonialismus folgten Jahrzehnte des rauen Kalten Kriegs und der wirtschaftsegoistischen<br />
Aufteilungspolitik. Natürlich ist ein Teil der Probleme von lokaler Beschaffenheit. Doch der größte Teil<br />
der Diktatoren, vor denen die Menschen flüchten [oder gegen die sie im »arabischen Frühling« zurzeit<br />
aufbegehren], wird direkt oder indirekt von unseren europäischen Regierungen unterstützt.<br />
Statt der derzeitigen Parolen wie »Haltet sie draußen«, »Schickt sie zurück«, »Wer hierher kommt, muss<br />
genauso werden wie wir« und »Schieb das Problem [ = die Menschen und/oder die Länder in Not]<br />
deinem Nachbarn zu« oder »Die Deutschen bezahlen!« brauchen wir eine seriöse, weitsichtige und<br />
allumfassende Vision für ein EUROPA DER BÜRGER, die sowohl für Europa als auch für die Welt außerhalb<br />
Europas die Bedürfnisse Europas abdeckt, die aus fünf Hauptelementen bestehen:<br />
I. EUROPÄER SEIN<br />
Wir als Europäer müssen zuallererst Europa annehmen! Vergessen Sie Technokraten, Politiker und Ver -<br />
träge und erinnern Sie sich, was Europa zuallererst ist: unsere Region, die wir bevölkern und von der