Literarischer Rettungsschirm.pdf - Internationales Literaturfestival ...
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JANNE TELLER EUROPE NOW<br />
Wir brauchen eine europäische Identität, auf die sich alle beziehen können, ungeachtet ihrer Hautfarbe<br />
oder Kultur, Religion, ihrer Traditionen, Ess- oder anderer Gewohnheiten.<br />
Nachdem ich in vielen Ländern in und außerhalb von Europa gelebt habe, schlage ich als besonderes<br />
Kennzeichen unserer Region die besondere Freude an »Diskreter Qualität« vor. Wir prahlen nicht<br />
[wenn wir am besten sind!], wir brauchen nicht das Größte, das Schnellste oder das Reichste, wir brau -<br />
chen es vor allem nicht zu zeigen; wir lieben die ganz eigene Schönheit der Diskretion, die Grö ße,<br />
die in echter Qualität liegt, die Aufmerksamkeit dem Detail gegenüber, das gerade eben mit den Sinnen<br />
erahnt wird, das man jedoch nicht laut hinausposaunt.<br />
Diese Suche nach diskreter Qualität hat sich zeitgleich mit der Entwicklung unserer europäischen Ku -<br />
ltur, unserer Architektur, unserer Denker und unserer Kunst über die Jahrhunderte entwickelt. Man<br />
trifft sie überall, in den Mustern des Parkettbodens, in Kristallglas und Porzellan, in Möbeln, Mode,<br />
Essen, Skulpturen, Filmen, Städteplanung, Gartenbepflanzung und nicht zuletzt in unserem Verhalten.<br />
Diskrete Qualität ist kein verschließender äußerer Rahmen, sondern ein inneres Ideal. Nationale und<br />
lokale Eigenheiten Europas sind nicht bedroht, sondern erhalten mehr Platz in dem Augenblick, in<br />
dem sie sich öffnen und auch was andersartig ist innerhalb ihrer eigenen Lokalität Platz einräumen.<br />
Zu dem Stolz, den wir angesichts unserer schönsten Schlösser und besten Philosophen, unserer Wei -<br />
ne und unserer Literatur empfinden – und nicht zuletzt zu dem Stolz auf deren unfassbare Variations -<br />
breite –, können alle neu hinzugekommenen Europäer auf die eine oder andere Weise beitragen: mit<br />
einer besonders verlockenden afghanisch-europäischen Musik, einem besonders interessanten afrikanisch-europäischen<br />
Möbelstück, einer schönen arabisch-europäischen Poesie, der Architektur, ei -<br />
nem Restaurant, einem Stil, ja, mit was auch immer, solange das Ziel echte diskrete Qualität ist.<br />
V. EUROPAS FUSSSPUREN SIND WIR<br />
Schließlich ist es höchste Zeit, dass wir uns daran erinnern, wie Denken und Tun zusammenhängen:<br />
Das, was wir denken, bestimmt, wohin wir treten können, doch erst das, was wir tun, bestimmt, welche<br />
Fußspuren wir hinterlassen – und damit, wer wir sind.<br />
Wenn wir unsere Umwelt und unsere Mitmenschen weiterhin so heuchlerisch behandeln, wie wir das<br />
im Moment tun, unterminieren wir auf lange Sicht unsere eigenen wirtschaftlichen und politischen In -<br />
teressen – doch wir höhlen auch den Wert gerade der Lehrsätze aus, die wir ansonsten als die zentralsten<br />
unserer europäischen Zivilisation ansehen: »Alle Menschen sind gleich geboren« und »Behandle<br />
deinen Nachbarn, wie du selbst gerne behandelt werden möchtest«. Um Erbe eines Gedan kens<br />
zu sein, muss man ihm auch nacheifern – oder ihn sich zumindest bei allem, was man tut, zum Maß -<br />
stab und Kompass nehmen.<br />
An dem Tag, an dem wir uns nicht durch unsere Hautfarbe ]ja, die Europäer waren einmal weiß, aber<br />
das sind wir nicht mehr!] und andere äußerliche Kennzeichen identifizieren, sondern durch ein gemein -<br />
sames Ideal und wie sich dieses auf die Essenz unseres Charakters auswirkt und damit auf unsere<br />
Handlungen, wird Europa nicht mehr im Konflikt mit sich selbst sein – oder mit seinen neu hinzugekommenen<br />
Miteuropäern. Sondern stattdessen zu einer vielstimmigen Symphonie werden, einer unendlichen<br />
Variation des gemeinsamen Themas: diskrete Qualität.<br />
An dem Tag, an dem wir uns erinnern, dass diskrete Qualität auch bedeutet, in Übereinstimmung mit<br />
unseren eigenen Werten zu handeln, wagen wir vielleicht selbst die Frage zu stellen und zu beantwor -<br />
ten: EUROPA, wer bist du? Wer möchtest du sein?<br />
2012