Literarischer Rettungsschirm.pdf - Internationales Literaturfestival ...
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12. INTERNATIONALES LITERATURFESTIVAL BERLIN EUROPE NOW<br />
NORBERT SCHEUER<br />
GRENZLAND<br />
Ende Oktober 2011 fuhr Karl mit dem Zug in Richtung Westeifel; er wollte in ein Dorf, direkt an der bel -<br />
gischen Grenze, wo er beabsichtigte, einige Tage in einem abgelegenen Gasthof zu verbringen. Der<br />
Gast hof gehörte Julia, einer Freundin, die Karl lange nicht mehr gesehen hatte. Karl hatte Julia im<br />
Sommersemester 1979 an der Universität kennengelernt. Julia hatte sich in einem Seminar neben<br />
ihn gesetzt, ihre ledernen Handschuhe ausgezogen und sie sorgfältig auf das Pult gelegt; Handschuhe<br />
waren eine ihrer Marotten, ihr persönlicher Stil, wie sie zu sagen pflegte. Ihre Hände waren klein und<br />
zart. Obwohl sie nicht verheiratet war, trug sie einen altgoldenen Ehering an der rechten Hand. Karl<br />
hatte erst ihre schmalen Hände betrachtet, dann in ihre Augen geblickt. Sie hatte blaugrüne Iris und<br />
blondes, strähniges Haar, das über ihre Schultern fiel. Sie waren eine Zeit lang zusammen gewesen.<br />
Julia verlangte, dass er ihr den Ring abzog, bevor sie sich liebten. Sie hatte ihm einmal erzählt, es<br />
sei der Ehering ihres Großvaters, der Zöllner an der belgischen Grenze gewesen war. Es war wunder -<br />
bar gewesen, mit Julia zu schlafen, sie war unkomplizierter als alle Frauen, die er nach ihr kennenge -<br />
lernt hatte. Je länger die Zeit mit Julia zurücklag, desto schöner erschien sie ihm. Er blickte entgegen<br />
der Fahrtrichtung aus dem Zugfenster. Was in seinem Blickfeld erschien, war bereits Vergangenheit.<br />
Kieshalden, ausrangierte Container am Rande der Gleise, Silos hinter einem Durchfahrtsbahnhof,<br />
ein Schrottplatz, rostige Autos aus den siebziger und achtziger Jahren, aus der Zeit, in der er jung<br />
gewesen war. Karl dachte daran, dass die Griechen das Reich der Toten, den Hades, auch rückwärts<br />
betraten, was sie vor sich gehabt hatten, war ihre Vergangenheit. Auf den Höhenrücken drehten sich<br />
Windräder, am Himmel schwebten Kranichzüge zu ihren Winterquartieren, die Wälder leuchteten berauschend<br />
bunt, der Zug fuhr in einen Tunnel, danach ein Industriegebiet, vom Bahndamm sah er auf<br />
dicht aneinandergedrängte Hausdächer einer Ortschaft hinunter.<br />
Julias Eltern starben kurz nacheinander und sie kehrte in ihr Heimatdorf zurück, das nicht weit von<br />
hier, irgendwo direkt an der belgischen Grenze, lag. Julia hatte, wie Karl später von Freunden hörte,<br />
ihr Studium abgebrochen, hatte geheiratet und war in der Eifel geblieben, um die Gaststätte ihrer Eltern<br />
weiterzuführen. Achtundzwanzig Jahre später, Karls damalige Frau Miriam hatte ihn nach vielen<br />
Ehejahren verlassen, rief er Julia an. Karl hatte abends im Büro auf die Ergebnisse eines noch laufen -<br />
den Testprogramms gewartet, als er sie anrief. Sie hatte während des Telefonats hinter der Theke gestanden.<br />
Im Hintergrund hörte Karl Musik und laute Gesprächsfetzen. Julia schien wenig überrascht<br />
über seinen Anruf. »Heute Abend sind der Musik- und Kegelverein hier, dann ist immer viel los.« Sie<br />
bat ihn, zu warten, da sie in die Küche musste. »Ich rufe später wieder an«, sagte Karl. Er hatte sie<br />
nicht mehr angerufen – vielleicht wegen Sandra, die er einige Tage später kennengelernt hatte und<br />
mit der er sich über Miriam hinwegtröstete. Sandra und Karl trafen sich seit seiner Trennung an den<br />
Wochenenden, besuchten Konzerte, hatten zusammen eine Kreuzfahrt gemacht, auf der sie sich zu<br />
oft wegen Kleinigkeiten gestritten hatten.<br />
Zwei Jahre waren seit jenem Telefonat vergangen, Karl saß im Zug, der eine Gegend durchquerte, die<br />
er nur aus Julias Erzählungen und von Fotografien kannte. Damals interessierte sich Julia sehr für Fo -<br />
tografie, hatte ihm erklärt, für sie sei eine Fotografie ein Tropfen aus dem Meer der Wirklichkeit. Auf<br />
guten Fotos könne man Umrisse einer Wahrheit erkennen, die sonst unsichtbar bliebe. Karl wusste<br />
nicht, warum er seiner Vergangenheit hinterherfuhr. In einer Woche musste er wieder im Rechenzentrum<br />
sein, wegen einer schon seit einem Jahr geplanten Softwareumstellung. In den letzten Monaten<br />
hatte er fast ohne Unterbrechung gearbeitet. Er war jetzt Mitte fünfzig und musste aufhören, jeder<br />
technischen Neuerung hinterherzujagen. Während der Zugfahrt bemerkte er zum ersten Mal, wie viel<br />
Zeit vergangen war, Zeit, die sich in seiner Erinnerung weiter veränderte, von der er fälschlicherweise<br />
geglaubt hatte, sie verschwinde spurlos.<br />
Die Busse fuhren vom Kaller Bahnhofsvorplatz zu den großen Stauseen des Nationalparks und weiter<br />
bis zur belgischen Grenze. Auf den Treppenstufen vor dem Bahnhofsgebäude hockten Jugendliche,<br />
in der Bahnhofsstraße drängten sich Geschäfte, eine kleine Spielhalle und ein Reisebüro, gegenüber<br />
vom Bahnhof lehnte eine Frau mit kurzem rotem Haar an ihrem Taxi und rauchte. Karl ging an ihr vorü -<br />
ber zur Bushaltestelle. Bis sein Bus fuhr, hatte er eine halbe Stunde Zeit. Er kaufte in der Cafeteria<br />
des Supermarkts einen Becher Kaffee und setzte sich an einen Terrassentisch, seinen Rucksack mit<br />
Kulturbeutel, Unterwäsche und Strümpfen stellte er an das Tischbein. Neben ihm saß ein Junge mit<br />
seiner Mutter. Wie man an ihrem Kittel erkennen konnte, arbeitete sie im Supermarkt. Sie sprach mit