Weltseele und unendlicher Verstand - Salomon Maimon
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Seienden bewegte bzw. bestimmte Mögliche. 46 Alles, was entsteht, entsteht durch die Tätig-<br />
keit eines bereits in Wirklichkeit Seiendem. Das Mögliche wird somit als das passive Zugrun-<br />
deliegende, als Stoff oder Materie (hyle) aufgefaßt, welches ihre Bestimmung (morphe) durch<br />
eine von außen kommende Tätigkeit erfährt. 47 Daher kann Aristoteles auch zusammenfassend<br />
schreiben, daß alles Werdende „durch etwas <strong>und</strong> aus etwas <strong>und</strong> etwas“ 48 wird. Die dabei zu<br />
Gr<strong>und</strong>e liegende Möglichkeit ist jedoch auch kein bloßes Nichtsein 49 , da weder aus dem<br />
Nichts etwas werden kann noch ein jedes Mögliche alles werden kann. Das von Aristoteles<br />
veranschlagte Mögliche ist vielmehr auf ein bestimmtes Etwas hin zu verstehendes Noch-<br />
nicht-Sein, ein Fehlen 50 an bestimmten Sein, welches es von einem Wirklichen erhält. 51<br />
Daraus ergibt sich nun die Möglichkeit (Materie) als das passive Prinzip der Aristotelischen<br />
Ontologie. 52 Dynamis wird von Aristoteles als Prinzip des Erleidens aufgefaßt. Es bezeichnet<br />
die „einem Stoff (Material) innewohnende ‚Möglichkeit’ im Hinblick auf die ‚Wirklichkeit’<br />
46 Vgl. Zeller (1879), 315: „Alles Werden ist ein Uebergang der Möglichkeit in die Wirklichkeit; das Werden<br />
überhaupt setzt daher ein Substrat voraus, dessen Wesen eben darin besteht, die reine Möglichkeit zu sein, welche<br />
noch in keiner Beziehung zur Wirklichkeit geworden ist.“<br />
47 Vgl. Aristoteles (1999), 8. Buch, 1. Kapitel, 219 [1042 a]: „unter Stoff verstehe ich nämlich dasjenige, was,<br />
ohne der Wirklichkeit nach ein bestimmtes Etwas zu sein, doch der Möglichkeit nach ein bestimmtes Etwas ist“<br />
(1041a, 219). Siehe weiterhin Aristoteles (1995), 2. Buch, 1. Kapitel, 61 [412 a]: „Die Materie ist Potenz/Möglichkeit,<br />
die Form aber ist Vollendung (Entelechie)“; sowie Aristoteles (1995), 2. Buch, 3. Kapitel, 73<br />
[414 a].<br />
48 Aristoteles (1999), 7. Buch, 7. Kapitel, 189 [1032 a]; vgl. Kummer (2001), 77: „Aristoteles’ eigene Theorie<br />
basiert auf seiner üblichen Frage-Trias zur Analyse des Werdens: wodurch? – woraus? – wozu? (Met. VII 7,<br />
1032a 13).”<br />
49 Man kann zwischen einem bloßen oder reinen Nichtsein <strong>und</strong> einer ‚Art des Nichtseins’ unterscheiden: „Sein<br />
ist eigentlich Wirklichsein. Darum ist Möglichsein als Nichtwirklichsein eo ipso schon eine Art des Nichtseins.“<br />
(Stallmach [1959], 57) Die Möglichkeit ist in diesem Sinne ein „Noch-nicht-Sein“, vgl. Stallmach (1959), 56-84.<br />
Zur Aporie der Vorgänger Aristoteles’ in dieser Hinsicht siehe Aristoteles (1975), 1. Buch, 8. Kapitel, 53-55<br />
[191 a – 191 b] sowie 5. Buch, 1. Kapitel, 164-166 [224 a – 225 a].<br />
50 Vgl. Stallmach (1959), 96-103: „Der Fehl an Sein“.<br />
51 In diesem Sinne wird weiter unten auch der Möglichkeitsbegriff für den Zusammenhang vitalistischer physiologischer<br />
Theorien gebraucht. Siehe Driesch (1922), 11, der die beiden Gr<strong>und</strong>begriffe von dynamis <strong>und</strong> energeia<br />
(bzw. Entelechie) im „embryologischem Rahmen“ untersucht: „Es handelte sich früher um Stoff <strong>und</strong> Form <strong>und</strong><br />
handelt sich jetzt um Möglichkeit <strong>und</strong> Wirklichkeit: Hyle <strong>und</strong> Eidos, Dynamis <strong>und</strong> Entelechie. Dynamis bedeutet<br />
nun bei Aristoteles nicht das, was in neuerer Sprache in Begriffen wie Potential oder potentielle Energie zum<br />
Ausdruck kommt, [...]. Der Begriff der Dynamis ist viel weiter: er umfaßt die Möglichkeit, etwas zu erleiden<br />
[...]. Entelechie aber ist das im höchsten Sinne ‚Seiende’ einschließlich des ihm innewohnenden Strebens nach<br />
realer Ausgestaltung: in diesem Sinne ‚ist’ die Statue vor ihrer Realistaion im Geiste des Bildhauers. Man sieht,<br />
daß eher noch als der Begriff der Dynamis derjenige der Entelechie dem modernen Begriff des Potentiellen entspricht,<br />
obschon auch nicht völlig. Aristotelisch gesprochen, kann man die Entelechie am besten als dynamisch,<br />
als ‚sich äußernd’ oder doch ‚sich äußern könnend’ gedachte ‚Form’ ([eidos]) bezeichnen.“<br />
52 Vgl. Pechmann (1999), 35 a: „Auf Gr<strong>und</strong>lage dieser beiden Prinzipien, der materiellen dynamis <strong>und</strong> der tätigen<br />
energeia, entwickelte Aristoteles seine teleologische Seinslehre.“<br />
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