Kulturtipp - chasaeditura.ch
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LESEN<br />
LITERATUR<br />
«Weiss der Himmel»<br />
Willkommen auf Skios:<br />
Der betagte englis<strong>ch</strong>e<br />
S<strong>ch</strong>riftsteller Mi<strong>ch</strong>ael<br />
Frayn hat eine köstli<strong>ch</strong>e<br />
Verwe<strong>ch</strong>slungskomödie<br />
ges<strong>ch</strong>rieben – in Romanform.<br />
Der kleine Band<br />
bietet grosses Lese -<br />
vergnügen.<br />
Der flamboyante Oliver Fox ist<br />
ein Glücksritter. Bei seiner Ankunft<br />
auf der fiktiven grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en<br />
Ferieninsel Skios erkennt<br />
er na<strong>ch</strong> einer Verwe<strong>ch</strong>slung<br />
auf dem Flughafen die<br />
Chance, eine andere Identität<br />
anzunehmen. Nur für ein paar<br />
Stunden will er die Rolle des<br />
Wissens<strong>ch</strong>aftlers Norman Wilfred<br />
spielen. Dieser soll auf Einladung<br />
der akademis<strong>ch</strong>en Fred<br />
Toppler Stiftung auf einem Seminar<br />
eine Rede halten. Der<br />
S<strong>ch</strong>riftsteller Mi<strong>ch</strong>ael Frayn entwickelt<br />
daraus eine köstli<strong>ch</strong>e<br />
Slapstick-Comedy, die den Leser<br />
in Atem hält.<br />
Den Freund vor Augen<br />
Grie<strong>ch</strong>enland: Traumdestination als Ort des Ges<strong>ch</strong>ehens<br />
Fox findet s<strong>ch</strong>nell Gefallen an<br />
seiner neuen Persönli<strong>ch</strong>keit, und<br />
aus den Stunden werden flugs<br />
Tage. Die einladende Fred Toppler<br />
Stiftung bringt ihm all<br />
die Ehrerbietung entgegen, die<br />
einem Akademiker von Welt<br />
gebührt. Die nette Stiftungssekretärin<br />
s<strong>ch</strong>eint sogar zu etwas<br />
mehr bereit zu sein als nur zur<br />
Ehrerbietung.<br />
Und der ri<strong>ch</strong>tige Dr. Norman<br />
Wilfred, der mit dem glei<strong>ch</strong>en<br />
Flugzeug wie Fox auf Skios gelandet<br />
ist? Der wird just in die<br />
s<strong>ch</strong>icke Villa <strong>ch</strong>auffiert, die Fox<br />
für si<strong>ch</strong> ursprüngli<strong>ch</strong> als Liebesnest<br />
vorgesehen hat. Und was<br />
den Wissens<strong>ch</strong>aftler dort erwartet,<br />
ist au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t ganz ohne.<br />
Die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te spitzt si<strong>ch</strong><br />
na<strong>ch</strong> und na<strong>ch</strong> zu. Denn der<br />
Ho<strong>ch</strong>stapler Oliver Fox hat keine<br />
Ahnung, wel<strong>ch</strong>e wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e<br />
Rolle er der Stiftung<br />
vorspielen soll. Do<strong>ch</strong> mit Ges<strong>ch</strong>ick<br />
kann er si<strong>ch</strong> immer wieder<br />
herauswinden. So antwortet<br />
er auf die Frage na<strong>ch</strong> dem Sinn<br />
seines letzten Bu<strong>ch</strong>es: «Weiss der<br />
Himmel!» Und die Herzen der<br />
Fred-Toppler-Anhänger fliegen<br />
ihm zu.<br />
Was lustig klingt, hat einen<br />
ernsten Hintergrund, wie der<br />
S<strong>ch</strong>riftsteller Mi<strong>ch</strong>ael Frayn<br />
dem «Observer» sagte. Er da<strong>ch</strong>te<br />
beim S<strong>ch</strong>reiben an einen manis<strong>ch</strong>-depressiven<br />
Freund, «der<br />
in seiner manis<strong>ch</strong>en Phase zu allem<br />
fähig war». Genauso wie<br />
der Angeber Oliver Fox im<br />
Roman.<br />
BIRGIT MINNAAR/FOTOLIA.COM<br />
Man kennt den 80-jährigen Mi<strong>ch</strong>ael<br />
Frayn in der S<strong>ch</strong>weiz vor<br />
allem als Bühnenautor. Er feierte<br />
grosse Erfolge mit seiner Komödie<br />
«Der nackte Wahnsinn», die<br />
in vers<strong>ch</strong>iedenen eatern zu sehen<br />
war, zuletzt in Luzern.<br />
Au<strong>ch</strong> Ernsthaftigkeit<br />
Frayn ist allerdings ni<strong>ch</strong>t nur ein<br />
ungemein witziger Autor. Er ist<br />
s<strong>ch</strong>riftstelleris<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> ernsthaften<br />
emen gewa<strong>ch</strong>sen. So<br />
bra<strong>ch</strong>te er im Stück «Demokratie»<br />
die Affäre um den DDR-<br />
Spion Günter Guillaume in<br />
den Diensten des damaligen<br />
deuts<strong>ch</strong>e Bundeskanzlers Willy<br />
Brandt ins eater. Und im<br />
Stück «Kopenhagen» spre<strong>ch</strong>en<br />
die beiden Atomphysiker Niels<br />
Bohr und Werner Heisenberg<br />
im Zweiten Weltkrieg über die<br />
moralis<strong>ch</strong>e Verantwortung der<br />
Wissens<strong>ch</strong>aft. Wie diese Stücke<br />
zeigen, hat Frayn eine grosse Affinität<br />
zu Deuts<strong>ch</strong>land. Er arbeitete<br />
in den 70ern als Korrespondent<br />
des «Guardian» in Berlin.<br />
Heute lebt er mit der renommierten<br />
Dickens-Biografin Claire<br />
Tomalin in London.<br />
Und wie geht die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />
des fals<strong>ch</strong>en Wissens<strong>ch</strong>aftlers auf<br />
der sonnigen Ferieninsel Skios<br />
aus? Nur so viel: Alles kommt<br />
ganz anders, als man denkt. Und<br />
das ma<strong>ch</strong>t dieses Bu<strong>ch</strong> so lesenswert.<br />
Rolf Hürzeler<br />
Mi<strong>ch</strong>ael Frayn<br />
«Skios»<br />
284 Seiten<br />
(Carl Hanser Verlag<br />
2013).<br />
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