Kulturtipp - chasaeditura.ch
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CARTE BLANCHE<br />
«In seinem Kopf spielten<br />
Shakespeares Figuren<br />
Welttheater»<br />
Sein Purismus ging so weit, dass er irgendwann<br />
au<strong>ch</strong> Hörbü<strong>ch</strong>er und Radio-Hörspiele<br />
auf seinen persönli<strong>ch</strong>en Index setzte. Fortan<br />
begnügte er si<strong>ch</strong> damit, die Programmzeitung<br />
zu lesen. Er ging das Sendeangebot<br />
dur<strong>ch</strong>, ohne si<strong>ch</strong> die Sendungen anzuhören.<br />
Er studierte die Namen, Titel und Kurzbes<strong>ch</strong>riebe<br />
und stellte sie si<strong>ch</strong> vor seinem inneren<br />
Ohr vor. Das gelang ihm ni<strong>ch</strong>t auf<br />
Anhieb, es bedurfte einiger Übung, do<strong>ch</strong><br />
bald rei<strong>ch</strong>te die Lektüre der Programmeinträge,<br />
um Ri<strong>ch</strong>ards akustis<strong>ch</strong>e Fantasie zu beflügeln.<br />
Das «Gedi<strong>ch</strong>t am Morgen» etwa; Autor und<br />
Übers<strong>ch</strong>rift waren angekündigt. Ri<strong>ch</strong>ard<br />
rezitierte die Verse, wenn sie ihm bekannt<br />
waren (was häufig der Fall war), oder ersann<br />
sie si<strong>ch</strong>. Titel wie «Ho<strong>ch</strong>seil», «Lei<strong>ch</strong>ter als<br />
Luft» oder «Nur eine Rose als Stütze» ma<strong>ch</strong>ten<br />
ihn zum Di<strong>ch</strong>ter, öffneten ihm innere<br />
Welten.<br />
Jeden Na<strong>ch</strong>mittag, pünktli<strong>ch</strong> zum «Klassiktelefon»,<br />
stellte er si<strong>ch</strong> eine persönli<strong>ch</strong>e<br />
Wuns<strong>ch</strong>liste zusammen, su<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong> die entspre<strong>ch</strong>enden<br />
Aufnahmen aus seiner umfangrei<strong>ch</strong>en<br />
S<strong>ch</strong>allplattensammlung heraus und<br />
hörte sie si<strong>ch</strong> an.<br />
«100 Sekunden Wissen» war ihm Anlass,<br />
einen Band seiner Brockhaus-Enzyklopädie<br />
aus dem Regal zu ziehen, ihn irgendwo aufzus<strong>ch</strong>lagen,<br />
und seine bereits umfangrei<strong>ch</strong>e<br />
Allgemeinbildung um einen Eintrag zu ergänzen.<br />
Jeder Vermerk in der Programmzeits<strong>ch</strong>rift<br />
war ihm Verheissung, jeder Titel eines Hörspiels<br />
eine Offenbarung. Je kürzer die Information,<br />
desto freier war er in seiner Imagination.<br />
Anders als bei Bü<strong>ch</strong>ern mit seitenweise<br />
vorgegebenen Wörtern und Sätzen,<br />
waren jetzt alle mögli<strong>ch</strong>en Inhalte, die unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>sten<br />
Figuren und ausgefallensten<br />
Handlungen denk- und vorstellbar.<br />
Natürli<strong>ch</strong> wusste er, dass das «E<strong>ch</strong>o der Zeit»<br />
eine reine Informationssendung war, Ri<strong>ch</strong>ard<br />
aber malte si<strong>ch</strong> ein Geistesbild geradezu<br />
surrealistis<strong>ch</strong>er Dimension aus: In einer<br />
Talsohle ein riesenhafter Wecker, dessen gewaltiges<br />
Ticken von den s<strong>ch</strong>roffen Felswänden<br />
hallt!<br />
Wenn abends um Viertel vor a<strong>ch</strong>t das<br />
«Klangfenster» anstand, öffnete er die Balkonflügel<br />
und laus<strong>ch</strong>te den vielfältigen Geräus<strong>ch</strong>en,<br />
die hereindrangen – Wind, Vogelgezwits<strong>ch</strong>er,<br />
Kinderges<strong>ch</strong>rei oder vorbeifahrende<br />
Autos –, und liess sie in seiner Or<strong>ch</strong>esterohrmus<strong>ch</strong>el<br />
zu einer Klangkomposition<br />
vers<strong>ch</strong>melzen. Denn Ri<strong>ch</strong>ard wusste: Alles<br />
ist Musik.<br />
Seine neue Methode des Rundfunkkonsums<br />
vermo<strong>ch</strong>te sogar uralte, verhärtete Vorurteile<br />
abzubauen: Unter Zuhilfenahme eines geistigen<br />
Getränkes bra<strong>ch</strong>te er si<strong>ch</strong> spät abends<br />
«Wenn abends das ‹Klangfenster›<br />
anstand, öffnete<br />
er die Balkonflügel und<br />
laus<strong>ch</strong>te den Geräus<strong>ch</strong>en,<br />
die hereindrangen»<br />
man<strong>ch</strong>mal dazu, auf den Populärsender umzus<strong>ch</strong>alten,<br />
pardon, umzublättern. Er las<br />
dann «Yesterday When I Was Young» und<br />
s<strong>ch</strong>welgte für die Dauer der zweistündigen<br />
Oldies-Sendung in alten Erinnerungen.<br />
Au<strong>ch</strong> Programmpunkte wie «Rendez-vous»<br />
und «Na<strong>ch</strong>tclub» vermo<strong>ch</strong>ten den einsamen<br />
und in die Jahre gekommenen Junggesellen<br />
ungemein zu erregen.<br />
Do<strong>ch</strong> damit ni<strong>ch</strong>t genug. Ri<strong>ch</strong>ards neu entdeckte<br />
geistige Unabhängigkeit erlaubte<br />
ihm, eine weitere tiefe Abneigung zu überwinden,<br />
und er nahm si<strong>ch</strong> jetzt gelegentli<strong>ch</strong><br />
die Freiheit, sogar im Fernsehprogramm zu<br />
s<strong>ch</strong>mökern!<br />
Als eines Tages ein Mann von der Gebühreneinzugsgesells<strong>ch</strong>aft<br />
bei ihm klingelte, gab Ri<strong>ch</strong>ard<br />
an, er habe immer no<strong>ch</strong> keinen Fernseher<br />
und sein Radiogerät habe er entsorgt,<br />
«Er nahm si<strong>ch</strong> jetzt<br />
gelegentli<strong>ch</strong> die Freiheit,<br />
sogar im Fernsehprogramm<br />
zu s<strong>ch</strong>mökern»<br />
er besitze au<strong>ch</strong> keinerlei elektronis<strong>ch</strong>e Geräte.<br />
Do<strong>ch</strong>, so fügte er an, sowohl Radio- wie<br />
TV-Programm seien absolut fantastis<strong>ch</strong>, er<br />
nähme beides ausgiebig in Anspru<strong>ch</strong>!<br />
Simon Chen<br />
Simon Chen wurde 1972<br />
geboren und wu<strong>ch</strong>s in<br />
Fribourg auf. Na<strong>ch</strong> seiner<br />
S<strong>ch</strong>auspielausbildung an der<br />
Ho<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>ule für Theater Bern<br />
und Engagements in Bielefeld,<br />
Berlin und beim Aargauer<br />
Theater Marie hat er zum<br />
Poetry-Slam gewe<strong>ch</strong>selt.<br />
Seit 2007 ist er selbständiger<br />
Spoken-Word-Autor, S<strong>ch</strong>riftsteller,<br />
Moderator und Radiokünstler,<br />
etwa mit Beiträgen<br />
für das «S<strong>ch</strong>reckmümpfeli»<br />
auf Radio SRF 1. 2010 ers<strong>ch</strong>ien<br />
seine erste Solo-CD<br />
«Solange ihr la<strong>ch</strong>t». Simon<br />
Chen lebt in Züri<strong>ch</strong>.<br />
kulturtipp 12 l 13<br />
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