HRRS Ausgabe 5/2013 - hrr-strafrecht.de
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Aufsätze und Anmerkungen<br />
Roggan – Der tkü-spezifische Kernbereichsschutz im Verständnis <strong>de</strong>s Zweiten Senats <strong>de</strong>s BVerfG<br />
Im Anschluss an diese Rechtsprechung entschied <strong>de</strong>r<br />
Zweite Senat <strong>de</strong>s BVerfG bei einer E-Mail-Beschlagnahme,<br />
dass bei tatsächlichen Anhaltspunkten für die Annahme,<br />
dass ein Zugriff auf gespeicherte Telekommunikation<br />
Inhalte erfasse, die zum Kernbereich gehörten, er insoweit<br />
nicht zu rechtfertigen und insoweit zu unterbleiben habe.<br />
10<br />
In dieser Judikatur ist eine Präzisierung <strong>de</strong>s Kernbereichsschutzes,<br />
möglicherweise aber auch eine Aufweichung<br />
<strong>de</strong>r Kriterien für ein Überwachungsverbot zu<br />
erkennen. Denn während im Diktum <strong>de</strong>s Ersten Senats die<br />
Auslegung nicht fern liegend ist, dass es ein (Gesamt-)Maßnahmeverbot<br />
(„eine Telekommunikationsüberwachung“<br />
11 ) meint, 12 schränkt <strong>de</strong>r Zweite Senat das<br />
Überwachungsverbot erkennbar auf bestimmte Kommunikationsbeziehungen<br />
(„insoweit“) ein (dazu näher unter<br />
II.2.).<br />
Unabhängig hiervon ist aber festzuhalten, dass bis hierhin<br />
<strong>de</strong>r Prognosemaßstab in bei<strong>de</strong>n Senaten einheitlich<br />
verstan<strong>de</strong>n wird: Jeweils lösen „tatsächliche Anhaltspunkte“<br />
ein Überwachungsverbot aus. Dieser Terminus<br />
ist vor allem aus polizeirechtlichen Eingriffstatbestän<strong>de</strong>n<br />
im Bereich <strong>de</strong>r sog. Vorfel<strong>de</strong>rmittlungen 13 bekannt.<br />
Gegenstand ist dort die Prognose einer zukünftigen<br />
Rechtsgutsverletzung, 14 bei <strong>de</strong>r eine entsprechen<strong>de</strong> Möglichkeit<br />
bereits ausreicht und nur reine Spekulationen,<br />
hypothetische Erwägungen o<strong>de</strong>r lediglich auf kriminalistische<br />
Alltagserfahrungen gestützte, fallunabhängige<br />
Vermutungen als Grundlage einer Entscheidung nicht<br />
ausreichen. 15 Was dort ermächtigungsbegrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong> tatbestandliche<br />
Schwelle ist, wird hier von bei<strong>de</strong>n Senaten als<br />
maßnahmeverbotsbegrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Terminus verwandt.<br />
Pointiert ist also zu formulieren, dass im bereits eingeleiteten<br />
Ermittlungsverfahren unter leichteren Bedingungen<br />
ein Datenerhebungsverbot greift, als dasselbe überhaupt<br />
einzuleiten ist (zureichen<strong>de</strong> Anhaltspunkte, § 152 Abs. 2<br />
StPO). 16<br />
II. Zur Entscheidung <strong>de</strong>s Zweiten Senats<br />
Vor diesem skizzierten Hintergrund hatte <strong>de</strong>r Zweite<br />
Senat über die Verfassungsmäßigkeit von § 100a Abs. 4<br />
StPO zu entschei<strong>de</strong>n. Danach ist eine Maßnahme unzulässig,<br />
wenn tatsächliche Anhaltspunkte für die Annahme<br />
vorliegen, dass durch sie allein Erkenntnisse aus <strong>de</strong>m<br />
Kernbereich privater Lebensgestaltung erlangt wür<strong>de</strong>n<br />
(Satz 1). Erkenntnisse aus <strong>de</strong>m Kernbereich privater<br />
Lebensgestaltung, die durch eine Maßnahme erlangt<br />
wur<strong>de</strong>n, dürfen nicht verwertet wer<strong>de</strong>n (Satz 2). Aufzeichnungen<br />
hierüber sind unverzüglich zu löschen (Satz<br />
3). Die Tatsache ihrer Erlangung und Löschung ist aktenkundig<br />
zu machen (Satz 4).<br />
10<br />
BVerfG StV 2009, 617, 622 – Hervorhebungen durch Verf..<br />
11<br />
BVerfGE 113, 348, 391 = BVerfG <strong>HRRS</strong> 2005 Nr. 718.<br />
12<br />
So versteht etwa SK-StPO/Wolter, 4. Aufl. (2010), § 100a<br />
Rn. 57 das BVerfG; zust. Roggan StV 2011, 762, 765.<br />
13<br />
Grdl. hierzu Weßlau Vorfel<strong>de</strong>rmittlungen (1989).<br />
14<br />
Bergemann DuD 2007, 581, 583.<br />
15<br />
Vgl. etwa BVerfG NJW 2001, 1121; näher Rachor, in: Lisken/Denninger,<br />
Handbuch <strong>de</strong>s Polizeirechts, 5. Aufl.<br />
(2012), S. 345 ff.<br />
16<br />
Roggan StV 2011, 762, 763.<br />
1. Maßnahmebegriff <strong>de</strong>s Gesetzes<br />
Allgemein ist als Maßnahme im rechtlichen Sinne ein<br />
hoheitlich begrün<strong>de</strong>tes Han<strong>de</strong>ln zu verstehen, das in die<br />
(Grund-)Rechte einer Person eingreift und unter Umstän<strong>de</strong>n<br />
gegen ihren Willen vollzogen wird. 17 Begrifflich<br />
kann also sowohl eine einzelne Handlung (eine Festnahme<br />
etc.) wie auch eine Anordnung von mehreren,<br />
erst noch vorzunehmen<strong>de</strong>n Vollzugshandlungen als<br />
Maßnahme aufzufassen sein.<br />
Bei einer systematischen Betrachtung kann § 100a Abs. 4<br />
StPO mit „Maßnahme“ nur eine anzuordnen<strong>de</strong> Telekommunikationsüberwachung<br />
als Gesamtmaßnahme<br />
meinen, die ihrerseits sodann in einer Vielzahl von<br />
Überwachungseinzelakten durchzuführen ist. Das ergibt<br />
sich daraus, dass § 100b Abs. 1 S. 1 StPO von „Maßnahmen<br />
nach § 100a“ spricht, die grundsätzlich <strong>de</strong>r richterlichen<br />
Anordnung bedürfen. Die Anordnung wie<strong>de</strong>rum<br />
betrifft nach § 100b Abs. 2 Nr. 2 <strong>de</strong>n Anschluss o<strong>de</strong>r das<br />
Endgerät eines Betroffenen. Mithin meint § 100a Abs. 4<br />
S. 1 StPO einen anschluss- bzw. endgerätebezogenen<br />
Kernbereichsschutz. Dieser Umstand ist von Be<strong>de</strong>utung<br />
für die folgen<strong>de</strong>n Darlegungen.<br />
Als institutionelle Ausprägung eines Überwachungsverbots<br />
hatte <strong>de</strong>r Gesetzgeber Anschlüsse <strong>de</strong>r Telefonseelsorge<br />
im Blick. 18<br />
2. Zweiter Senat: Verbindungs- bzw.<br />
kontaktbezogener Kernbereichsschutz<br />
Der Zweite Senat erteilt einem weitergehen<strong>de</strong>n, anschluss-<br />
bzw. endgerätebezogenen Kernbereichsschutz<br />
auf gesetzlicher Ebene eine klare Absage, in<strong>de</strong>m er die<br />
durch § 100a Abs. 4 StPO geschaffenen Vorkehrungen<br />
zum Schutz <strong>de</strong>s Kernbereichs privater Lebensgestaltung<br />
bei <strong>de</strong>r Telekommunikationsüberwachung auf <strong>de</strong>r Erhebungsebene<br />
als <strong>de</strong>n verfassungsrechtlichen Anfor<strong>de</strong>rungen<br />
genügend bezeichnet. 19 Er befin<strong>de</strong>t sich damit auf<br />
einer Linie mit einer in <strong>de</strong>r Kommentar-Literatur verbreiteten<br />
Meinung. 20 Demgegenüber entspricht es einer weit<br />
verbreiteten Kritik im sonstigen Schrifttum, dass die<br />
Ausschlussklausel <strong>de</strong>s Satzes 1 weitestgehend leer läuft. 21<br />
17<br />
Vgl. nur Lensch, in: Möllers (Hrsg.), Wörterbuch <strong>de</strong>r Polizei,<br />
2. Aufl. (2010), S. 1231.<br />
18<br />
BT-Drucks. 16/5846, S. 45; sehr krit. dazu Braun/Fuchs Die<br />
Polizei 2010, 185, 189 – Gesetzesbegründung überschreitet<br />
damit „die Grenze zur Lächerlichkeit“.<br />
19<br />
BVerfG <strong>HRRS</strong> 2012 Nr. 29, Abs. 205 ff. = BVerfGE 129,<br />
208, 245 ff. = BVerfG NJW 2012, 833, 837 ff. = BVerfG, 2<br />
BvR 236/08 v. 12.10.2011, Abs. 209 ff.<br />
20<br />
Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. (2012), § 100a Rn. 24; KK-<br />
StPO/Nack, 6. Aufl. (2008), § 100a Rn. 39; Graf, in: <strong>de</strong>rs.<br />
(Hg.), StPO, 2. Aufl. (2012), § 100a Rn. 51 ff.; wohl auch<br />
Röwer, in: Radtke/Hohmann, StPO (2011), § 100a Rn. 23;<br />
AnwKomm-StPO/Löffelmann, 2. Aufl. (2010), § 100a Rn.<br />
11.<br />
21<br />
Zöller StraFo 2008, 15, 22; <strong>de</strong>rs. ZStW 124 (2012), 411,<br />
431; Eisenberg, Beweisrecht <strong>de</strong>r StPO, 7. Aufl. (2011), Rn.<br />
2492; Wolter GA 2007, 183, 196; Puschke/Singelnstein NJW<br />
2008, 113, 114; Nöding StraFo 2007, 456, 458; Knierim StV<br />
2008, 599, 603; Baum/Schantz ZRP 2008, 137, 138; HK-<br />
StPO/Gercke, 5. Aufl. (2012), § 100a Rn. 33; Gercke StV<br />
<strong>HRRS</strong> Mai <strong>2013</strong> (5/<strong>2013</strong>)<br />
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