HRRS Ausgabe 5/2013 - hrr-strafrecht.de
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Aufsätze und Anmerkungen Begemeier – Reichweite <strong>de</strong>r unionsrechtskonformen Auslegung im <strong>de</strong>utschen Straf- und Strafverfahrensrecht<br />
terlichen Interpretation. 41 Das BVerfG hat <strong>de</strong>n Entscheidungsspielraum<br />
<strong>de</strong>r Gerichte durch eine „Erweiterung<br />
<strong>de</strong>s Analogieverbots“ weiter eingeschränkt. 42 Es hat festgestellt,<br />
dass einzelne Tatbestandsmerkmale auch innerhalb<br />
ihres natürlichen Wortsinns nicht so weit ausgelegt<br />
wer<strong>de</strong>n dürfen, dass sie vollständig in an<strong>de</strong>ren Tatbestandsmerkmalen<br />
aufgehen. 43 Darüber hinaus seien die<br />
Gerichte bei <strong>de</strong>r Auslegung auch an <strong>de</strong>n Willen <strong>de</strong>s Gesetzgebers<br />
gebun<strong>de</strong>n. 44<br />
Das Analogieverbot schützt damit nicht nur die Einhaltung<br />
<strong>de</strong>r Wortlautgrenze, son<strong>de</strong>rn auch die systematische<br />
und subjektiv-historische Interpretation <strong>de</strong>s Gesetzes<br />
zugunsten <strong>de</strong>s Bürgers. 45 Teilweise wer<strong>de</strong>n die Ausführungen<br />
sogar als Erweiterung <strong>de</strong>s Analogieverbots auf<br />
eine metho<strong>de</strong>ngerechte Auslegung interpretiert. 46 Eine<br />
unionsrechtskonforme Auslegung kommt damit auch<br />
innerhalb <strong>de</strong>r Wortlautgrenze nicht in Betracht, wenn sie<br />
zur Verschleifung von Tatbestandsmerkmalen führt o<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>r subjektive-historische Wille <strong>de</strong>s Gesetzgebers entgegensteht.<br />
(2) Präzisierungsgebot<br />
Darüber hinaus hat das BVerfG festgestellt, dass Art. 103<br />
Abs. 2 GG die Gerichte zu einer präzisieren<strong>de</strong>n Auslegung<br />
verpflichtet. 47 Insbeson<strong>de</strong>re bei weit gefassten Tatbestän<strong>de</strong>n<br />
müssen sie verbleiben<strong>de</strong> Unklarheiten über<br />
<strong>de</strong>n Anwendungsbereich einer Norm durch eine Präzisierung<br />
im Wege <strong>de</strong>r Auslegung ausräumen. 48 Auch eine<br />
unionsrechtskonforme Auslegung muss sich an diesem<br />
Präzisierungsgebot messen lassen.<br />
(3) Erhöhter Vertrauensschutz<br />
Zu<strong>de</strong>m hat das BVerfG ange<strong>de</strong>utet, dass sich aus <strong>de</strong>m<br />
Präzisierungsgebot Anfor<strong>de</strong>rungen an die Ausgestaltung<br />
von Rechtsprechungsän<strong>de</strong>rungen ergeben könnten, die<br />
über die allgemeinen Grundsätze <strong>de</strong>s Vertrauensschutzes<br />
41<br />
Dannecker, in: LK-StGB (Fn. 20), § 1 Rn. 308.<br />
42<br />
Gae<strong>de</strong>, in: AnwK-StGB (Fn. 20), § 1 Rn. 27 mit <strong>de</strong>m Hinweis,<br />
<strong>de</strong>r Begriff Analogie sei dabei nicht im engeren technischen<br />
Sinn zu verstehen; Kuhlen JR 2011, 246, 248;<br />
Schulz, FS Roxin II (Fn. 40), S. 321: „Analogieverbot materiell<br />
angereichert und entspricht einem Präzisierungsgebot,<br />
mit <strong>de</strong>m eine gesetzeswidrige Auslegung vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n<br />
soll“; an<strong>de</strong>re Terminologie bei Saliger ZIS 2011, 902,<br />
903: „Gebot bestimmter Gesetzesauslegung“, <strong>de</strong>r damit zurecht<br />
hervorhebt, dass es sich methodisch um einen Unterschied<br />
han<strong>de</strong>lt, ob eine Auslegung über <strong>de</strong>n Wortlaut hinaus<br />
verboten o<strong>de</strong>r innerhalb <strong>de</strong>s Wortlauts eine bestimmte<br />
Auslegung geboten ist.<br />
43<br />
BVerfG NJW 2010, 3209 (Rn. 79): „Verschleifung (...) von<br />
Tatbestandsmerkmalen“.<br />
44<br />
BVerfG NJW 2010, 3209 (Rn. 80).<br />
45<br />
Kuhlen JR 2011, 246, 248; Saliger ZIS 2011, 902, 903: „Garantie<br />
<strong>de</strong>r Einhaltung <strong>de</strong>s Willens <strong>de</strong>s Gesetzgebers zur<br />
Straflosigkeit eines Verhaltens“.<br />
46<br />
Gae<strong>de</strong>, in: AnwK-StGB (Fn. 20), § 1 Rn. 27: „<strong>strafrecht</strong>liches<br />
Gebot zur metho<strong>de</strong>ngerechten Auslegung“; Becker<br />
<strong>HRRS</strong> 2010, 383, 386; Böse Jura 2011, 617, 621: „Garantie<br />
für eine metho<strong>de</strong>ngerechte Auslegung“; kritisch dazu aber<br />
Saliger ZIS 2011, 902, 903 Fn. 19.<br />
47<br />
BVerfG NJW 2010, 3209 (Rn. 81).<br />
48<br />
BVerfG NJW 2010, 3209 (Rn. 81).<br />
hinausgehen. 49 Denn Strafgerichte seien bei <strong>de</strong>r Än<strong>de</strong>rung<br />
einer gefestigten Rechtsprechung in beson<strong>de</strong>rem<br />
Maße verpflichtet, für geeigneten Vertrauensschutz zu<br />
sorgen. 50 Die Anfor<strong>de</strong>rungen an diesen Vertrauensschutz<br />
hat das BVerfG in einer jüngeren Entscheidung etwas<br />
präzisiert, 51 dabei aber offen gelassen, ob eine belasten<strong>de</strong><br />
Rechtsprechungsän<strong>de</strong>rung gegen Art. 103 Abs. 2 GG<br />
verstoßen kann. Dieser noch konkretisierungsbedürftige<br />
Vertrauensschutz muss auch bei einer belasten<strong>de</strong>n<br />
Rechtsprechungsän<strong>de</strong>rung berücksichtigt wer<strong>de</strong>n, die<br />
unionsrechtlich bedingt ist. 52<br />
Damit bleibt festzuhalten, dass Art. 103 Abs. 2 GG in <strong>de</strong>r<br />
Lesart <strong>de</strong>s BVerfG <strong>de</strong>n Auslegungsspielraum <strong>de</strong>r Gerichte<br />
auch innerhalb <strong>de</strong>s Gesetzeswortlauts be<strong>de</strong>utend einschränkt.<br />
Dadurch wird gleichzeitig die Reichweite <strong>de</strong>r<br />
unionsrechtskonformen Auslegung im <strong>de</strong>utschen Strafrecht<br />
begrenzt.<br />
c) Vereinbarkeit mit <strong>de</strong>m gesamten Unionsrecht<br />
Da das Auslegungsgebot nicht auf bestimmte Unionsrechtsakte<br />
begrenzt ist, entsteht eine Pflicht zu einer<br />
bestimmten Auslegung nur, soweit ein Auslegungsergebnis<br />
mit <strong>de</strong>m gesamten Unionsrecht in Einklang steht. 53<br />
Bei <strong>de</strong>r unionsrechtskonformen Auslegung einer Strafnorm<br />
ist daher nicht nur strafbarkeitserweitern<strong>de</strong>s<br />
Unionsrecht in <strong>de</strong>n Blick zu nehmen; auch strafbarkeitsbegrenzen<strong>de</strong>s<br />
Unionsrecht muss beachtet wer<strong>de</strong>n.<br />
Eine solche Wirkung haben insbeson<strong>de</strong>re die Grundfreiheiten<br />
und die Grundrechtecharta. Letztere steht gemäß<br />
Art. 6 Abs. 1 EUV gleichranging neben <strong>de</strong>n Verträgen. 54<br />
Überdies ist auf die EMRK hinzuweisen, die im Unionsrecht<br />
gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV als allgemeiner Rechtsgrundsatz<br />
gilt. Für das Strafverfahren ist Art. 6 EMRK<br />
mit seinen zahlreichen Verfahrensgarantien be<strong>de</strong>utsam. 55<br />
49<br />
BVerfG NJW 2010, 3209 (Rn. 81); Böse Jura 2011, 617,<br />
621: „Hier <strong>de</strong>utet sich ein Wan<strong>de</strong>l in <strong>de</strong>r bisherigen verfassungsrechtlichen<br />
Judikatur an, wonach eine Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r<br />
höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht <strong>de</strong>m Rückwirkungsverbot<br />
unterliegt.“; ähnlich Kuhlen JR 2011, 246, 250.<br />
50<br />
BVerfG NJW 2010, 3209 (Rn. 81); dazu Schulz, FS Roxin II<br />
(Fn. 40), S. 305, 312 ff.<br />
51<br />
BVerfG <strong>HRRS</strong> Nr. 737 mit Anmerkung Kuhlen <strong>HRRS</strong> 2012,<br />
114.<br />
52<br />
Zur Zulässigkeit <strong>de</strong>r „strafbarkeitserweitern<strong>de</strong>n Auslegung“<br />
siehe Satzger, Europäisierung <strong>de</strong>s Strafrechts (Fn. 1),<br />
S. 555 ff.; Hecker, Europäisches Strafrecht (Fn. 5), § 10 Rn.<br />
59 ff.<br />
53<br />
Begriffliche Präzisierung: In <strong>de</strong>r Literatur wird für die<br />
dargestellten Zusammenhänge die Bezeichnung „unionsrechtliche<br />
Grenze“ verwen<strong>de</strong>t. Der Begriff „Grenze“ suggeriert,<br />
dass von einem einzelnen Unionsrechtsakt bereits ein<br />
Auslegungsgebot ausgeht, das dann durch das primäre<br />
Unionsrecht begrenzt wird. Es erscheint in<strong>de</strong>s wi<strong>de</strong>rsprüchlich,<br />
von einer Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung<br />
zu sprechen, die ihrerseits durch Unionsrecht begrenzt<br />
wird. Vielmehr geht von <strong>de</strong>r Unionstreue eine solche<br />
Pflicht nur unter <strong>de</strong>r Bedingung aus, dass ein Auslegungsergebnis<br />
mit <strong>de</strong>m gesamten Unionsrecht in Einklang<br />
steht.<br />
54<br />
Beukelmann NJW 2010, 2081.<br />
55<br />
Siehe dazu Gae<strong>de</strong>, Fairness als Teilhabe – Das Recht auf<br />
konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß<br />
Art. 6 EMRK (2007), S. 159 ff.; einen Überblick zu<br />
<strong>HRRS</strong> Mai <strong>2013</strong> (5/<strong>2013</strong>)<br />
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