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HRRS Ausgabe 5/2013 - hrr-strafrecht.de

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Aufsätze und Anmerkungen<br />

b) Altfälle<br />

aa) Unweit komplizierter stellt sich die Situation für vor<br />

<strong>de</strong>m 1. Januar 2011 begangene Anlasstaten dar. In diesen<br />

Fällen besteht neben <strong>de</strong>r für die Neufälle genannten<br />

Möglichkeit <strong>de</strong>s „Maßnahmetauschs“ (gem. § 66b Abs. 3<br />

StGB i.d.F. d. SichVNachtrEG) nach Art. 316e Abs. 1 S. 1<br />

EGStGB unter bestimmten Umstän<strong>de</strong>n die Möglichkeit<br />

einer nachträglichen Anordnung <strong>de</strong>r Sicherungsverwahrung<br />

nach § 66b Abs. 1, 2 i.d.F. d. SichVNachtrEG. Die<br />

Anordnungsvoraussetzungen hierfür sind sehr komplex<br />

und nicht leicht durchschaubar. Erfor<strong>de</strong>rlich ist zunächst<br />

das Vorliegen <strong>de</strong>r Voraussetzungen von § 66b Abs. 1 o<strong>de</strong>r<br />

2 StGB a.F., also neben <strong>de</strong>r Verurteilung wegen einer<br />

spezifischen schuldhaft begangenen Anlasstat das vor<br />

Vollzugsen<strong>de</strong> erfolgen<strong>de</strong> Bekanntwer<strong>de</strong>n neuer Tatsachen,<br />

die auf eine erhebliche Gefährlichkeit <strong>de</strong>s Verurteilten<br />

hinweisen und eine Gesamtwürdigung <strong>de</strong>r Vortaten<br />

<strong>de</strong>s Verurteilten und ergänzend seine Entwicklung während<br />

<strong>de</strong>s Strafvollzugs ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />

schwere Straftaten begehen wird. Auf die<br />

zahlreichen und im Einzelnen heftig umstrittenen Detailprobleme<br />

dieser Vorschrift kann an dieser Stelle nicht<br />

näher eingegangen wer<strong>de</strong>n. 126<br />

Neu hinzugekommen ist, dass neben diesen Voraussetzungen<br />

die Anordnung (bzw. Fortdauer) einer solchen<br />

nachträglichen Sicherungsverwahrung gem. Art. 316e<br />

Abs. 1 S. 2 EGStGB (Anlasstat vor <strong>de</strong>m 1. Januar 2011)<br />

bzw. Art. 316f Abs. 2 S. 1 EGStGB (Anlasstat zwischen<br />

<strong>de</strong>m 1. Januar 2011 und <strong>de</strong>m 31. Mai <strong>2013</strong>), jew. i.V.m.<br />

Art. 316f Abs. 2 S. 2 EGStGB, nur dann erfolgen darf,<br />

wenn beim Betroffenen zusätzlich eine psychische Störung<br />

vorliegt und aus konkreten Umstän<strong>de</strong>n in seiner<br />

Person o<strong>de</strong>r seinem Verhalten eine hochgradige Gefahr<br />

abzuleiten ist, dass er infolge dieser Störung schwerste<br />

Gewalt- o<strong>de</strong>r Sexualstraftaten begehen wird. Diese zusätzlichen<br />

Voraussetzungen bereiten unter verschie<strong>de</strong>nen<br />

Gesichtspunkten erhebliche Schwierigkeiten. Ein Problem<br />

besteht zunächst darin, in welchem Verhältnis die<br />

nach § 66b Abs. 1, 2 StGB a.F. erfor<strong>de</strong>rlichen nova zu<br />

<strong>de</strong>m Erfor<strong>de</strong>rnis <strong>de</strong>r psychischen Störung und <strong>de</strong>n konkreten<br />

gefahrbegrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>n stehen. 127 Ganz<br />

beson<strong>de</strong>re Schwierigkeiten bereitet zu<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r „unbestimmte<br />

Rechtsbegriff“ 128 <strong>de</strong>r psychischen Störung, auf<br />

welchen im Folgen<strong>de</strong>n näher eingegangen sei.<br />

bb) Den Begriff <strong>de</strong>r psychischen Störung hat <strong>de</strong>r Gesetzgeber<br />

aus § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG übernommen; ihm soll<br />

in Art. 316f Abs. 2 S. 2 EGStGB dieselbe Be<strong>de</strong>utung<br />

zukommen. 129 Diese Feststellung hilft für sich genommen<br />

aber kaum weiter, da auch im Zusammenhang mit<br />

<strong>de</strong>m ThUG „[n]iemand so recht [weiß], was eine [solche]<br />

Störung ist“ 130 . Nach <strong>de</strong>r Vorstellung <strong>de</strong>s Gesetzgebers<br />

han<strong>de</strong>lt es sich bei <strong>de</strong>r psychischen Störung um<br />

126<br />

Siehe etwa OLG Koblenz NStZ 2005, 97. Ausführlich zu<br />

<strong>de</strong>n einzelnen Voraussetzungen Rissing-van Saan/Peglau<br />

(Fn. 20), § 66b Rn. 65-156.<br />

127<br />

Dazu An<strong>de</strong>rs JZ 2012, 498, 501 f.<br />

128<br />

BVerfG StV 2012, 25, 27 Tz. 39 = <strong>HRRS</strong> 2011 Nr. 1132;<br />

OLG Karlsruhe StV 2012, 228, 229.<br />

129<br />

BT-Drs. 17/9874, S. 31.<br />

130<br />

Bock <strong>HRRS</strong> 2010, 533, 534. Ähnlich Höffler/Kaspar ZStW<br />

124 (2012), 87, 103 („völlig unklar“).<br />

Zimmermann – Das neue Recht <strong>de</strong>r Sicherungsverwahrung (ohne JGG)<br />

einen Defektzustand unterhalb <strong>de</strong>r Schwelle zur (teilweisen)<br />

Dekulpation nach § 21 StGB. 131 Mithin gibt es nach<br />

<strong>de</strong>r Vorstellung <strong>de</strong>s Gesetzgebers nunmehr fünf Täterkategorien:<br />

(1) Schuldunfähige, (2) vermin<strong>de</strong>rt Schuldfähige,<br />

(3) Schuldfähige, aber zugleich psychisch Gestörte,<br />

(4) „bloße“ Hangtäter und (5) „gewöhnliche“ Straftäter.<br />

Die intendierte Neuschaffung <strong>de</strong>r Kategorie (3) ist zunächst<br />

insofern nachvollziehbar, weil im Falle <strong>de</strong>s Vorliegens<br />

einer die Zurechnungsfähigkeit berühren<strong>de</strong>n Störung<br />

als Präventionsinstrumente die Unterbringung nach<br />

§ 63 StGB bzw. lan<strong>de</strong>srechtlichen Gesetzen zur Unterbringung<br />

psychisch Kranker (z.B. gem. Art. 1 Abs. 1 S. 1<br />

BayUnterbrG) einschlägig wären, <strong>de</strong>r Gesetzgeber jedoch<br />

gera<strong>de</strong> Personen im Blick hat, bei <strong>de</strong>nen diese Voraussetzungen<br />

nicht erfüllt sind. Als potentiell erfasste Personengruppe<br />

verweist die Gesetzesbegründung auf die<br />

Diagnoseklassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV und<br />

nennt bspw. Menschen mit dissozialen Persönlichkeitsstörungen<br />

o<strong>de</strong>r Störungen <strong>de</strong>r Sexualpräferenz (z.B.<br />

Pädophilie). 132 Ob <strong>de</strong>r Begriff „psychische Störung“ aber<br />

überhaupt im Sinne <strong>de</strong>r Täterkategorie (3) analytisch<br />

rekonstruiert wer<strong>de</strong>n kann – d.h. <strong>de</strong>nklogisch möglich ist<br />

–, ist umstritten.<br />

Teilweise wird dies verneint. 133 Insbes. seitens <strong>de</strong>r Psychiatrie<br />

wird die Auffassung vertreten, eine psychische<br />

Störung gehe stets und notwendig mit einer zumin<strong>de</strong>st<br />

vermin<strong>de</strong>rten Schuldfähigkeit einher. Dabei wird argumentiert,<br />

in <strong>de</strong>r psychiatrischen Wissenschaft wer<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

Begriff <strong>de</strong>r „psychischen Störung“ nun einmal so verstan<strong>de</strong>n,<br />

dass es über die in <strong>de</strong>n genannten Klassifikationssystemen<br />

aufgeführten Diagnosen hinaus einer<br />

zusätzlichen Krankheitswertigkeit, also einer Autonomiebeeinträchtigung<br />

sowie eines vom Betroffenen gefühlten<br />

Lei<strong>de</strong>nsdrucks, bedarf 134 (sodass etwa ein lebensfroher<br />

Psychopath mit klarem Verstand nicht als gestört<br />

gilt 135 ); eine isolierte Heranziehung <strong>de</strong>r Diagnosemanuale<br />

ICD-10 o<strong>de</strong>r DSM-IV stehe darum Juristen nicht zu<br />

und komme einem Missbrauch psychiatrischer Diagnosen<br />

gleich. 136 Im Übrigen wür<strong>de</strong> ein solchermaßen amputierter<br />

Störungsbegriff zu <strong>de</strong>m befremdlichen Ergebnis<br />

führen, dass etwa 10-20% <strong>de</strong>r Bevölkerung und über 70%<br />

<strong>de</strong>r Strafgefangenen als in diesem Sinne gestört zu gelten<br />

hätten; das Ziel, allein beson<strong>de</strong>rs gefährliche Täter zu<br />

erfassen, wer<strong>de</strong> mithin dramatisch verfehlt. 137<br />

Bei<strong>de</strong> Argumente sind jedoch nicht stichhaltig. Letztgenannter<br />

Einwand ist schon insofern unrichtig, als dass<br />

eine nachträgliche Sicherungsverwahrungsanordnung<br />

kumulativ das Vorliegen einer Störung und eine spezifische<br />

Gefährlichkeitsprognose erfor<strong>de</strong>rt; das eine Merk-<br />

131<br />

BT-Drs. 17/9874, S. 31.<br />

132<br />

BT-Drs. 17/9874, S. 31 i.V.m. BT-Drs. 17/3403, S. 54.<br />

133<br />

Nußstein NJW 2011, 1194, 1196. Zweifelnd auch Morgenstern<br />

ZIS 2011, 974, 978.<br />

134<br />

J. Müller NK 2012, 54, 55 u. 57. Der Hinweis von Dessecker<br />

ZIS 2011, 706, 712 auf <strong>de</strong>n Wortlaut von § 1 Abs. 1 Nr. 1<br />

ThUG („an einer psychischen Störung lei<strong>de</strong>t“ – gegen dieses<br />

Argument Nußstein StV 2011, 633, 634) verfängt hier schon<br />

<strong>de</strong>shalb nicht, weil Art. 316f Abs. 2 S. 2 EGStGB nur noch<br />

auf das „Vorliegen“ einer Störung abstellt.<br />

135<br />

So i.E. OLG Hamm StV 2011, 681, 686.<br />

136<br />

J. Müller NK 2012, 54, 56 f.; Satzger StV <strong>2013</strong>, 243, 248.<br />

137<br />

J. Müller NK 2012, 54, 57. Aufgegriffen z.B. von BayLT-Drs.<br />

16/13868, S. 1 (Entschließungsantrag Freie Wähler).<br />

<strong>HRRS</strong> Mai <strong>2013</strong> (5/<strong>2013</strong>)<br />

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