HRRS Ausgabe 5/2013 - hrr-strafrecht.de
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Aufsätze und Anmerkungen<br />
Roggan – Der tkü-spezifische Kernbereichsschutz im Verständnis <strong>de</strong>s Zweiten Senats <strong>de</strong>s BVerfG<br />
wenn das nach <strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>n mit beson<strong>de</strong>rer Wahrscheinlichkeit<br />
zu erwarten ist, eine je<strong>de</strong>rzeitige Überwachungsabbruchmöglichkeit<br />
mittels „manueller“ Intervention.<br />
Insoweit vermag <strong>de</strong>r Senat <strong>de</strong>n Eindruck nicht vollständig<br />
zu vermei<strong>de</strong>n, dass er die Vermeidung einer personalintensiven<br />
Begleitung von laufen<strong>de</strong>n TKÜ-<br />
Maßnahmen im Blick hatte.<br />
Davon abgesehen kommt <strong>de</strong>r Grundsatz <strong>de</strong>s Ersten Senats<br />
aus <strong>de</strong>r Lauschangriff-Entscheidung, wonach in <strong>de</strong>n<br />
Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht etwa eingegriffen<br />
wer<strong>de</strong>n darf, um erst festzustellen, ob die Informationserhebung<br />
diesen Bereich betrifft, 52 im Diktum<br />
<strong>de</strong>s Zweiten Senats überhaupt nicht vor. Auf diese Weise<br />
„erspart“ er <strong>de</strong>n Ermittlungsbehör<strong>de</strong>n jegliche Vorermittlung<br />
zur mutmaßlichen Nutzung eines zu überwachen<strong>de</strong>n<br />
Anschlusses.<br />
In Ermangelung einer gesetzlichen Maßgabe haben die<br />
Anordnungsbeschlüsse <strong>de</strong>r Ermittlungsrichter – je nach<br />
Wahrscheinlichkeit einer Kernbereichsbetroffenheit –<br />
spezifische Vorkehrungen explizit zu bestimmen. Bei <strong>de</strong>r<br />
Festlegung <strong>de</strong>s Umfangs einer TKÜ-Maßnahme ist also<br />
beispielsweise nicht nur anzugeben, ob und in welchem<br />
52<br />
BVerfGE 109, 279, 323 = BVerfG <strong>HRRS</strong> 2004 Nr. 170.<br />
Umfang die Gespräche aufzuzeichnen, welche von mehreren<br />
Anschlüssen zu überwachen sind und ob das<br />
durchgehend o<strong>de</strong>r nur zu bestimmten Tageszeiten geschehen<br />
soll. 53<br />
Nach hier vertretener Auffassung kann es bei bestimmten<br />
Anschlüssen aus Verhältnismäßigkeitsgrün<strong>de</strong>n angezeigt<br />
sein, eine Echtzeitüberwachung einschließlich <strong>de</strong>r<br />
je<strong>de</strong>rzeitigen Möglichkeit zum Überwachungsabbruch<br />
vorzusehen. 54 Diesem Ansatz scheint <strong>de</strong>r Zweite Senat<br />
freilich nicht folgen zu wollen, wie sich aus seiner Annahme,<br />
dass ein Überwachungsvollzug „durch (paralleles)<br />
Mithören in Echtzeit in <strong>de</strong>r Regel nur punktuell<br />
stattfin<strong>de</strong>n“ könne, 55 ergibt. Freilich zeigt sich gera<strong>de</strong><br />
und auch an dieser Stelle, dass er Gefahr läuft, <strong>de</strong>n menschenwür<strong>de</strong><strong>de</strong>finierten<br />
Schutz <strong>de</strong>s Kernbereichs privater<br />
Lebensgestaltung unter <strong>de</strong>n Vorbehalt personaler und<br />
damit letztlich fiskalischer Opportunität zu stellen.<br />
53<br />
Meyer-Goßner (Fn. 20), § 100b Rn. 4; noch knapper KK-<br />
StPO/Nack (Fn. 20), § 100b Rn. 9; vgl. auch BGH NJW<br />
2010, 1297 – Übermaßverbot bei E-Mail-Beschlagnahme.<br />
54<br />
Roggan StV 2011, 762, 764 ff.<br />
55<br />
BVerfG <strong>HRRS</strong> 2012 Nr. 29, Abs. 214 = BVerfGE 129, 208,<br />
248 = BVerfG NJW 2012, 833, 837 = BVerfG, 2 BvR<br />
236/08 v. 12.10.2011, Abs. 218.<br />
Aufsätze und Anmerkungen<br />
Zur Verfassungswidrigkeit <strong>de</strong>r Auslegung <strong>de</strong>s<br />
Sittenwidrigkeitsbegriffs i.S.d. § 228 StGB<br />
Anmerkung zu BGH, Urteil vom 20.02.<strong>2013</strong> – 1 StR 585/12 = <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr.<br />
342<br />
Von Dr. Philip von <strong>de</strong>r Me<strong>de</strong>n LL.B., Hamburg<br />
I. Einleitung<br />
Das neueste Urteil <strong>de</strong>s 1. Strafsenats <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sgerichtshofs<br />
zur Sittenwidrigkeit konsentierter Körperverletzungen,<br />
die im Rahmen von einverständlichen Gruppenschlägereien<br />
begangen wer<strong>de</strong>n, schränkt auf grundlegen<strong>de</strong><br />
Weise die Dispositionsbefugnis <strong>de</strong>s Einzelnen über<br />
das Rechtsgut <strong>de</strong>r körperlichen Unversehrtheit ein. Wie<br />
alle Entscheidungen zu § 228 StGB bewegt sich auch<br />
dieses Urteil im Spannungsfeld zwischen <strong>de</strong>r grundgesetzlich<br />
verbürgten Selbstbestimmung <strong>de</strong>s Einwilligen<strong>de</strong>n<br />
und (moralischen) Vorstellungen <strong>de</strong>r Allgemeinheit,<br />
die über <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r Sittenwidrigkeit Eingang in die<br />
rechtliche Bewertung fin<strong>de</strong>n. In seinem neusten Urteil<br />
entfernt sich <strong>de</strong>r BGH einen entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Schritt vom<br />
Prinzip <strong>de</strong>r Selbstbestimmung und entwickelt einen<br />
Maßstab zur Bestimmung <strong>de</strong>r Grenzen zulässiger Einwilligungen,<br />
<strong>de</strong>r einer überwiegend paternalistischen Betrachtung<br />
rechtlich zulässiger Dispositionen über <strong>de</strong>n<br />
eigenen Körper das Wort re<strong>de</strong>t. Der 1. Strafsenat kehrt<br />
mit seinem Urteil zu einer objektiv-moralischen Auslegung<br />
<strong>de</strong>s § 228 StGB zurück, die von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Strafsenaten<br />
bereits aufgegeben ist.<br />
II. Sachverhalt<br />
In seiner Entscheidung hatte sich <strong>de</strong>r 1. Strafsenat mit<br />
<strong>de</strong>r Frage auseinan<strong>de</strong>rzusetzen, ob Körperverletzungen,<br />
<strong>HRRS</strong> Mai <strong>2013</strong> (5/<strong>2013</strong>)<br />
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