HRRS Ausgabe 5/2013 - hrr-strafrecht.de
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Aufsätze und Anmerkungen<br />
von <strong>de</strong>r Me<strong>de</strong>n – Zur Verfassungswidrigkeit <strong>de</strong>r Auslegung <strong>de</strong>s Sittenwidrigkeitsbegriffs i.S.d. § 228 StGB<br />
neuere Rechtsprechung <strong>de</strong>s BGH bisher einen Mittelweg<br />
gewählt, in<strong>de</strong>m sie im Grundsatz von <strong>de</strong>m unmittelbaren<br />
Angriff auf das Rechtsgut <strong>de</strong>r körperlichen Unversehrtheit<br />
ausgegangen ist, <strong>de</strong>n damit verfolgten Zweck aber zu<br />
Gunsten <strong>de</strong>s Täters berücksichtigen wollte, wenn er sich<br />
trotz <strong>de</strong>r damit einhergehen<strong>de</strong>n Gefährdung ausnahmsweise<br />
zumin<strong>de</strong>st als einsehbar darstellte. 13<br />
Im nun entschie<strong>de</strong>nen Fall zur „dritten Halbzeit“ kehrt<br />
<strong>de</strong>r 1. Strafsenat <strong>de</strong>r Sache nach zu einem objektiven<br />
Zweckverständnis zurück. Bevor ich auf diese vom 1.<br />
Strafsenat nicht als solche anerkannte Rechtsprechungsän<strong>de</strong>rung<br />
näher eingehe (IV.1.), thematisiere ich zunächst<br />
die Frage, welchen Gefährdungsgrad <strong>de</strong>r konsentierte<br />
Angriff auf die körperliche Unversehrtheit nach<br />
bisherigem Verständnis haben musste, damit die Körperverletzung<br />
als sittenwidrig eingestuft wer<strong>de</strong>n konnte.<br />
Kontrastiert man diesen Gefährdungsgrad mit <strong>de</strong>m vom<br />
1. Strafsenat angelegten Maßstab, zeigt sich ein Paradigmenwechsel,<br />
<strong>de</strong>r sich erstens – auch nach <strong>de</strong>n bisherigen<br />
Grundsätzen zur Auslegung <strong>de</strong>s § 228 StGB – als systematisch<br />
nur schwer nachvollziehbare Interpretation darstellt<br />
und <strong>de</strong>r zweitens – auch wenn man die Vorschrift<br />
<strong>de</strong>s § 228 StGB nicht an sich für verfassungswidrig hält –<br />
je<strong>de</strong>nfalls im vorliegen<strong>de</strong>n Fall Verfassungsrecht verletzt.<br />
Bei<strong>de</strong> Problemfel<strong>de</strong>r sind, wie sich zeigen wird, eng miteinan<strong>de</strong>r<br />
verbun<strong>de</strong>n.<br />
IV. Von <strong>de</strong>r konkreten zur abstrakten<br />
Gefahr – und darüber hinaus<br />
In <strong>de</strong>r Literatur besteht im Ergebnis weitestgehend Einigkeit,<br />
dass geringfügige Verletzungen unabhängig von<br />
<strong>de</strong>n damit verfolgten Zwecken <strong>de</strong>r Beteiligten einwilligungsfähig<br />
sein müssen. 14 Unklarheit herrscht bezüglich<br />
<strong>de</strong>r Frage, wann nicht mehr von geringfügigen Verletzungen<br />
auszugehen ist. Hier wer<strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>ne Lösungsansätze<br />
vorgeschlagen, wobei sich die meisten Autoren<br />
an <strong>de</strong>r schweren Körperverletzung im Sinne <strong>de</strong>s § 226<br />
StGB beziehungsweise an einer mit <strong>de</strong>r Körperverletzung<br />
einhergehen<strong>de</strong>n konkreten To<strong>de</strong>sgefahr orientieren. 15<br />
Auch die jüngere Rechtsprechung <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sgerichtshofs<br />
bewertete Körperverletzungen bislang grundsätzlich<br />
als sittenwidrig, wenn sie <strong>de</strong>n Geschädigten in die konkrete<br />
Gefahr <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s brachten. 16 Den weitesten Maßstab<br />
legte in jüngerer Zeit das BayObLG in seiner Jugendgang-Entscheidung<br />
an, in <strong>de</strong>r es die abstrakte Lebensgefahr<br />
<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r Körperverletzung einhergehen<strong>de</strong>n<br />
Behandlung für das Diktum <strong>de</strong>r Sittenwidrigkeit ausreichen<br />
ließ. 17 In Anlehnung an die Rechtsprechung 18 und<br />
1999, 372, 373. Vgl. <strong>de</strong>n Überblick über die Rechtsprechungs-entwicklung<br />
bei Hardtung Jura 2005, 401 ff.<br />
13<br />
BGH, Urteil vom 26.05.2004 – 2 StR 505/03 Rn. 19 =<br />
<strong>HRRS</strong> 2004, Nr. 624; vgl. auch BGH NStZ 2009, 148, 150.<br />
14<br />
Siehe nur Fischer, a.a.O. (Fn. 2), § 228 Rn. 9.<br />
15<br />
Fischer, a.a.O. (Fn. 2), § 228 Rn. 10a; Stree/Sternberg-Lieben,<br />
a.a.O. (Fn. 7), § 228 Rn. 5.<br />
16<br />
So ausdrücklich BGH NJW 2009, 1155; BGH, Urteil vom<br />
26.05.2004 – 2 StR 505/03, Rn. 25 = <strong>HRRS</strong> 2004, Nr. 624;<br />
BGH, Beschluss vom 20.7.2010 – 5 StR 255/10 = <strong>HRRS</strong><br />
2010, Nr. 823.<br />
17<br />
Vgl. BayObLG NJW 1999, 372. Das Urteil basiert auf keinen<br />
Feststellungen, aus <strong>de</strong>nen sich eine tatsächlich eingetretene<br />
Lebensgefahr <strong>de</strong>s Opfers herleiten ließe.<br />
<strong>HRRS</strong> Mai <strong>2013</strong> (5/<strong>2013</strong>)<br />
Teile <strong>de</strong>r Literatur 19 , die für eine das Leben gefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
Behandlung im Sinne <strong>de</strong>s § 224 I Nr. 5 StGB eine abstrakt<br />
generelle Eignung <strong>de</strong>r konkreten Tat zur Gefährdung<br />
<strong>de</strong>s Lebens ausreichen lassen, hielt das BayObLG<br />
Körperverletzungen, die durch das Sich-<br />
Zusammenschlagen-Lassen eines Jugendlichen durch<br />
drei Gegner im Rahmen einer „Mutprobe“ begangen<br />
wur<strong>de</strong>n, für sittenwidrig, weil Schläge und Tritte gegen<br />
<strong>de</strong>n Kopf geführt wor<strong>de</strong>n waren, die zu schwersten Gesundheitsschädigungen,<br />
„ja sogar [zum] Tod <strong>de</strong>s Opfers“<br />
hätten führen können. 20 Der strenge Maßstab für die<br />
Bestimmung <strong>de</strong>r Sittenwidrigkeit solcher Körperverletzungen<br />
ergebe sich, so das BayObLG, auch aus <strong>de</strong>n mehrfachen<br />
Verschärfungen <strong>de</strong>r Strafrahmen für Delikte gegen<br />
die körperliche Unversehrtheit durch das 6. Strafrechtsreformgesetz.<br />
Der Gesetzgeber habe mit diesen Än<strong>de</strong>rungen<br />
zum Ausdruck gebracht, dass Gesundheit und<br />
körperliche Integrität in verstärktem Maße als beson<strong>de</strong>rs<br />
schützenswerte Rechtsgüter anzusehen seien und brutale<br />
Verletzungen „verabscheut“ wür<strong>de</strong>n. 21<br />
Den mit <strong>de</strong>m Jugendgang-Urteil postulierten Maßstab<br />
<strong>de</strong>r abstrakten Lebensgefahr greift <strong>de</strong>r 1. Strafsenat nun<br />
in seiner neuen Entscheidung auf und geht sogar noch<br />
einen Schritt darüber hinaus. Denn eine Körperverletzung<br />
im Rahmen von tätlichen Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen<br />
unter rivalisieren<strong>de</strong>n Gruppen soll trotz Einwilligung<br />
jetzt immer gegen die guten Sitten verstoßen, wenn keine<br />
konkrete To<strong>de</strong>sgefahr besteht, sofern keine das Gefährlichkeitspotential<br />
begrenzen<strong>de</strong>n Absprachen und<br />
effektive Sicherungen die Gefährlichkeit <strong>de</strong>r Situation<br />
begrenzen. 22 An<strong>de</strong>rs als man auf <strong>de</strong>n ersten Blick aus <strong>de</strong>r<br />
negativen Formulierung zu schließen meinen könnte,<br />
ergibt sich aus <strong>de</strong>m Urteil aber nicht einmal mehr das<br />
Erfor<strong>de</strong>rnis einer abstrakten Lebensgefahr. Das Landgericht<br />
hatte <strong>de</strong>n revidieren<strong>de</strong>n Angeklagten nicht wegen<br />
gefährlicher Körperverletzung mittels einer das Leben<br />
gefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Behandlung (§ 224 I Nr. 5 StGB) verurteilt,<br />
son<strong>de</strong>rn wegen gefährlicher Körperverletzung gem.<br />
§§ 223, 224 I Nr. 4 StGB. Daraus folgt, dass <strong>de</strong>r 1. Strafsenat,<br />
an<strong>de</strong>rs als noch das BayObLG, die Sittenwidrigkeit<br />
einer Körperverletzung von vornherein nicht einmal<br />
mehr an die abstrakte Möglichkeit <strong>de</strong>r Lebensgefahr<br />
bin<strong>de</strong>n will, son<strong>de</strong>rn nunmehr je<strong>de</strong> Körperverletzung<br />
prinzipiell <strong>de</strong>m Diktum <strong>de</strong>r Sittenwidrigkeit unterworfen<br />
sein kann, wenn nur die Rahmenbedingungen nicht solche<br />
sind, unter <strong>de</strong>nen eine Eskalation <strong>de</strong>r körperlichen<br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen durch Sicherungsmaßnahmen<br />
ausgeschlossen ist. Dabei geht <strong>de</strong>r 1. Strafsenat, im Ansatz<br />
zu Recht, davon aus, dass ausnahmsweise auch bei<br />
konkreter To<strong>de</strong>sgefahr die Sittenwidrigkeit zu verneinen<br />
sein kann, z.B. bei lebensgefährlichen aber notwendigen<br />
Operationen. 23 In diesen Fällen ist die Gefahrschaffung<br />
18<br />
BGHSt 2, 163; BGH NStZ 2004, 618 = <strong>HRRS</strong> 2005, Nr.<br />
912; BGH NStZ 2005, 156, 157 = <strong>HRRS</strong> 2010, Nr. 384;<br />
BGH NStZ 2010, 276 = <strong>HRRS</strong> 2011, Nr. 964.<br />
19<br />
Horn/Wolters, a.a.O. (Fn. 11), § 224 Rn. 30; Fischer, a.a.O.<br />
(Fn. 2), § 224 Rn. 12 m.w.N.; a.A. etwa Stree Jura 1980,<br />
281, 291 ff.<br />
20<br />
BayObLG NJW 1999, 372, 373.<br />
21<br />
BayObLG NJW 1999, 372, 373.<br />
22<br />
BGH, Urteil vom 20.02.<strong>2013</strong> – 1 StR 585/12 (Leitsätze) =<br />
<strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong>, Nr. 342.<br />
23<br />
BGH, Urteil vom 20.02.<strong>2013</strong> – 1 StR 585/12, Rn. 9 =<br />
<strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong>, Nr. 342.<br />
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