HRRS Ausgabe 5/2013 - hrr-strafrecht.de
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Aufsätze und Anmerkungen<br />
Zukunft eine Rolle spielen. Es ist allerdings zu differenzieren<br />
zwischen vor <strong>de</strong>m 1. Januar 2011 begangenen<br />
Taten (Altfälle) und nach diesem Stichtag begangenen<br />
Taten (Neufälle).<br />
a) Neufälle<br />
aa) Für Neufälle ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung<br />
nur noch in <strong>de</strong>n von § 66b StGB i.d.F. d. SichVNOG<br />
erfassten Fällen möglich, § 2 Abs. 6 StGB i.V.m. Art.<br />
316e Abs. 1 S. 1, 316f Abs. 1 EGStGB. 114 Danach kommt<br />
eine nachträgliche Sicherungsverwahrungsanordnung<br />
zum Tragen, wenn die Unterbringung in einem psychiatrischen<br />
Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 StGB für erledigt<br />
erklärt wor<strong>de</strong>n ist, weil <strong>de</strong>r die Schuldfähigkeit ausschließen<strong>de</strong><br />
(§ 20 StGB) o<strong>de</strong>r vermin<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> (§ 21 StGB)<br />
Zustand, auf <strong>de</strong>m die Unterbringung nach § 63 StGB<br />
beruhte, im Zeitpunkt <strong>de</strong>r Erledigungsentscheidung<br />
nicht bestan<strong>de</strong>n hat, und von <strong>de</strong>m Betroffenen mit hoher<br />
Wahrscheinlichkeit die Begehung erheblicher Straftaten<br />
zu erwarten ist, durch welche die Opfer seelisch o<strong>de</strong>r<br />
körperlich schwer geschädigt wer<strong>de</strong>n. 115<br />
bb) Bereits unter genuin verfassungsrechtlichen Aspekten<br />
ist § 66b StGB eine heikle Vorschrift. Zwar ist die<br />
konkrete Ausgestaltung <strong>de</strong>r Anordnungsvoraussetzungen<br />
vom BVerfG zunächst gar nicht 116 und in <strong>de</strong>r Entscheidung<br />
vom 4. Mai 2011 dann nur insoweit beanstan<strong>de</strong>t<br />
wor<strong>de</strong>n, als <strong>de</strong>r Vollzug <strong>de</strong>r nachträglichen Sicherungsverwahrung<br />
das Abstandsgebot nicht einhalte. 117 Konkret<br />
hat das Gericht, an<strong>de</strong>rs als bei § 66b Abs. 1, 2 StGB a.F.,<br />
eine Verletzung <strong>de</strong>s allgemeinen Vertrauensschutzgebots<br />
(Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V.m. 104 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG)<br />
durch die nachträgliche Sicherungsverwahrungsanordnung<br />
verneint. Zur Begründung führte es aus, es han<strong>de</strong>le<br />
sich bei § 66b StGB im Kern lediglich um die Überweisung<br />
von einer Maßnahme (Krankenhausunterbringung)<br />
in die an<strong>de</strong>re (Sicherungsverwahrung). 118 Unter <strong>de</strong>m<br />
Eindruck <strong>de</strong>r jüngsten EGMR-Rspr. zu § 66b Abs. 3 StGB<br />
a.F. (siehe unten) hat das BVerfG diese Argumentation<br />
in<strong>de</strong>s aufgegeben und obiter dictu angemerkt, „dass die<br />
Anwendung von § 66b Abs. 3 StGB [gemeint ist: § 66b<br />
StGB n.F.] auch in Neufällen Vertrauensschutzbelange<br />
tangiert.“ 119 Für eine verfassungskonforme Anwendung<br />
von § 66b StGB ist es daher notwendig, die Anordnung<br />
<strong>de</strong>r nachträglichen Sicherungsverwahrung in Neufällen<br />
einstweilen nur unter <strong>de</strong>nselben restriktiven Voraussetzungen,<br />
wie sie für Altfälle erfor<strong>de</strong>rlich sind, als verhältnismäßig<br />
i.S.d. § 62 StGB zu betrachten. D.h. die Erledigungserklärung<br />
gem. § 67d Abs. 6 S. 1 StGB ist mit <strong>de</strong>r<br />
Feststellung <strong>de</strong>s (Fort-)Bestehens einer psychischen<br />
114<br />
Missverständlich Volkmann JZ 2011, 835, 836, wonach<br />
§ 66b StGB gestrichen und mithin die nachträgliche Sicherungsverwahrung<br />
im Erwachsenen<strong>strafrecht</strong> abgeschafft<br />
wor<strong>de</strong>n sei.<br />
115<br />
Esser JA 2011, 727, 734.<br />
116<br />
BVerfGK 16, 98, 106 = <strong>HRRS</strong> 2010 Nr. 265 m. krit. Anm.<br />
Foth NStZ 2010, 267 f. (zum <strong>de</strong>m heutigen § 66b StGB entsprechen<strong>de</strong>n<br />
§ 66b Abs. 3 StGB a.F.).<br />
117<br />
BVerfGE 128, 326, 404 Tz. 166.<br />
118<br />
BVerfGK 16, 98, 111 (im Anschluss an BGHSt 52, 379, 391<br />
Tz. 35). Krit. hierzu Kinzig NJW 2011, 177, 180; Esser<br />
(Fn. 100), Art. 5 EMRK/Art. 9, 10, 11 IPBPR Rn. 86 („Etikettenschwin<strong>de</strong>l“).<br />
119<br />
BVerfG <strong>HRRS</strong> <strong>2013</strong> Nr. 228, Tz. 29-41.<br />
Zimmermann – Das neue Recht <strong>de</strong>r Sicherungsverwahrung (ohne JGG)<br />
Störung i.S.d. § 1 ThUG sowie einer hochgradigen Gefahr<br />
<strong>de</strong>r Begehung schwerster Gewalt- o<strong>de</strong>r Sexualstraftaten<br />
zu koppeln. 120<br />
cc) § 66b StGB ist an und für sich teilweise konventionswidrig.<br />
121 Als Rechtfertigungsgrund <strong>de</strong>r Freiheitsentziehung<br />
durch die Anordnung <strong>de</strong>r Sicherungsverwahrung<br />
gem. § 66b StGB i.V.m. § 275a StPO kommt primär Art. 5<br />
Abs. 1 S. 2 lit. a EMRK in Betracht – lit. e schei<strong>de</strong>t regelmäßig<br />
<strong>de</strong>shalb aus, weil eine psychische Krankheit<br />
gera<strong>de</strong> nicht (mehr) besteht. Die Rechtfertigung nach<br />
lit. a setzt allerdings eine Verurteilung, d.h. die gerichtliche<br />
Feststellung einer schuldhaft begangenen Tat voraus.<br />
Beruhte die ursprüngliche Unterbringungsanordnung<br />
gem. § 63 StGB auf einer lediglich gemin<strong>de</strong>rten Schuldfähigkeit<br />
i.S.d. § 21 StGB, ist das Verurteilungserfor<strong>de</strong>rnis<br />
insoweit erfüllt; 122 eine Durchbrechung <strong>de</strong>s erfor<strong>de</strong>rlichen<br />
Kausalzusammenhangs zwischen <strong>de</strong>r Verurteilung<br />
bzgl. <strong>de</strong>r Anlasstat und <strong>de</strong>r zeitlich nachfolgen<strong>de</strong>n Sicherungsverwahrungsanordnung<br />
ist aus <strong>de</strong>nselben Grün<strong>de</strong>n<br />
wie bei <strong>de</strong>r vorbehaltenen Sicherungsverwahrung nicht<br />
anzunehmen.<br />
Jedoch kann § 66b StGB, wie bereits ein Umkehrschluss<br />
aus <strong>de</strong>ssen Satz 2 ergibt 123 , auch dann zur Anwendung<br />
kommen, wenn <strong>de</strong>r ursprünglichen Unterbringung nach<br />
§ 63 StGB eine im Zustand <strong>de</strong>r Schuldunfähigkeit begangene<br />
Anlasstat zugrun<strong>de</strong> lag. 124 In diesen Fällen ist <strong>de</strong>r<br />
gem. § 66b StGB Sicherungsverwahrte zu keinem Zeitpunkt<br />
i.S.d. Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a EMRK „verurteilt“<br />
wor<strong>de</strong>n – während nämlich beim ersten Urteil gera<strong>de</strong><br />
keine Schuldfeststellung erfolgte (§ 20 StGB!), kommt es<br />
im zweiten Verfahren nach § 275a StPO 125 allein auf die<br />
künftige Gefährlichkeit <strong>de</strong>s Täters, nicht aber auf die<br />
Feststellung einer schuldhaft begangenen Tat an. Eine<br />
Möglichkeit zur konventionskonformen Ausgestaltung<br />
<strong>de</strong>s § 66b StGB in <strong>de</strong>n § 20 StGB-Fällen hätte allenfalls<br />
darin bestan<strong>de</strong>n, die Erledigungserklärung gem. § 67d<br />
Abs. 6 S. 1 StGB mit <strong>de</strong>r Feststellung <strong>de</strong>s<br />
(Fort-)Bestehens einer psychischen Störung i.S.d. § 1<br />
ThUG zu verbin<strong>de</strong>n – und auf diese Weise eine Legitimation<br />
auf <strong>de</strong>r Basis von Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. e EMRK zu<br />
erreichen. Berücksichtig man allerdings im Rahmen <strong>de</strong>r<br />
Verhältnismäßigkeitsprüfung gem. § 62 StGB die soeben<br />
aufgeführten verfassungsrechtlichen Vorgaben zum Vertrauensschutzgebot,<br />
kommt § 66b StGB ohnehin nur<br />
noch in diesen konventionsrechtlich unbe<strong>de</strong>nkliche(re)n<br />
Fällen zur Anwendung.<br />
120<br />
Näher zu diesen Voraussetzungen siehe unten IV. 3. b) bb)<br />
bzw. Fn. 173.<br />
121<br />
EGMR JR <strong>2013</strong>, 78, 80 f. (S./Deutschland) m. abl. Anm.<br />
Peglau. Ebenso i.E. Esser (Fn. 100), Art. 5 EMRK/Art. 9, 10,<br />
11 IPBPR Rn. 86; Stuckenberg (Fn. 104), § 275a Rn. 6;<br />
G. Merkel/Roth HFR 2010, 250, 255 Rn. 10; Kinzig NJW<br />
2011, 177, 180; Streng JZ 2011, 827, 833 f.; Renzikowski ZIS<br />
2011, 531, 535. Zweifelnd Kreuzer ZRP 2011, 7, 8.<br />
122<br />
Esser (Fn. 100), Art. 5 EMRK/Art. 9, 10, 11 IPBPR Rn. 86.<br />
123<br />
Esser (Fn. 100), Art. 5 EMRK/Art. 9, 10, 11 IPBPR Rn. 86.<br />
124<br />
Rissing-van Saan/Peglau (Fn. 20), § 66b Rn. 160.<br />
125<br />
Dazu, dass im Falle <strong>de</strong>r nachträglichen Anordnung gem.<br />
§ 66b StGB keine gespaltene Hauptverhandlung, son<strong>de</strong>rn<br />
vielmehr zwei eigenständige Verfahren erfolgen, Stuckenberg<br />
(Fn. 104), § 275a Rn. 5.<br />
<strong>HRRS</strong> Mai <strong>2013</strong> (5/<strong>2013</strong>)<br />
172