HRRS Ausgabe 5/2013 - hrr-strafrecht.de
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Aufsätze und Anmerkungen Begemeier – Reichweite <strong>de</strong>r unionsrechtskonformen Auslegung im <strong>de</strong>utschen Straf- und Strafverfahrensrecht<br />
Art. 288 Abs. 3 S. 1 AEUV und <strong>de</strong>m in Art. 4 Abs. 3 EUV<br />
normierten Grundsatz <strong>de</strong>r Unionstreue eine Pflicht <strong>de</strong>r<br />
nationalen Gerichte abgeleitet, bei <strong>de</strong>r Auslegung <strong>de</strong>s<br />
nationalen Rechts auch das Unionsrecht zu berücksichtigen.<br />
14 Daneben gebietet auch das <strong>de</strong>utsche Recht eine<br />
unionsrechtskonforme Auslegung. 15<br />
Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG begrün<strong>de</strong>t eine solche Pflicht,<br />
soweit sie mit <strong>de</strong>m gesamten <strong>de</strong>utschen Verfassungsrecht<br />
vereinbar ist. 16 Zu<strong>de</strong>m ist <strong>de</strong>r Richter gemäß<br />
Art. 20 Abs. 3 GG an die gelten<strong>de</strong>n methodischen Standards<br />
bei <strong>de</strong>r Auslegung <strong>de</strong>s Rechts gebun<strong>de</strong>n. 17 Diese<br />
führen ihrerseits zu einer Berücksichtigung <strong>de</strong>s Unionsrechts.<br />
18 Dient beispielsweise eine Norm <strong>de</strong>r Umsetzung<br />
einer Richtlinie, so bedürfen die historische sowie die<br />
teleologische Interpretation <strong>de</strong>r Beachtung unionsrechtlicher<br />
Vorgaben. Denn es gilt die Vermutung, dass <strong>de</strong>r<br />
Gesetzgeber die Richtlinie korrekt umsetzen wollte. 19<br />
Auf Grund ihrer unionsrechtlichen und verfassungsrechtlichen<br />
Fundierung umfasst die Pflicht zur unionsrechtskonformen<br />
Auslegung das gesamte <strong>de</strong>utsche Recht. 20<br />
Dieses ist im Einklang mit <strong>de</strong>m gesamten Unionsrecht<br />
auszulegen. 21 Für eine prinzipielle Ausklammerung <strong>de</strong>s<br />
Straf- und Strafverfahrensrechts ist kein Grund ersichtlich.<br />
Denn die Frage, ob bei <strong>de</strong>r Auslegung verfassungsrechtliche<br />
Vorgaben zu berücksichtigten sind, ist getrennt<br />
davon zu beantworten. 22 Sie betrifft die Reichweite<br />
<strong>de</strong>r Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung.<br />
339; Schramm, Internationales Strafrecht (2011), S. 125 Rn.<br />
84.<br />
14<br />
Grundlegend EuGH Slg. 1984, 1891, 1909 (von Colson und<br />
Kamann); 1894, 1921, 1942 (Harz).<br />
15<br />
Satzger a.a.O. (Fn. 2), § 9 Rn. 90; Hecker, Europäisches<br />
Strafrecht (Fn. 5), § 10 Rn. 6; Schramm, Internationales<br />
Strafrecht (Fn. 13), S. 125 Rn. 84; Schrö<strong>de</strong>r a.a.O. (Fn. 7), S.<br />
339; W. H. Roth, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Metho<strong>de</strong>nlehre,<br />
2. Aufl. (2010), § 14 Rn. 37.<br />
16<br />
W. H. Roth, in: Europäische Metho<strong>de</strong>nlehre (Fn. 15), § 14<br />
Rn. 37 f.<br />
17<br />
W. H. Roth, in: Europäische Metho<strong>de</strong>nlehre (Fn. 15), § 14<br />
Rn. 37 m.w.N.<br />
18<br />
Satzger, Europäisierung <strong>de</strong>s Strafrechts (Fn. 1), S. 525;<br />
Schrö<strong>de</strong>r a.a.O. (Fn. 7), S. 338; Hecker, Europäisches Strafrecht<br />
(Fn. 5), § 10 Rn. 9.<br />
19<br />
Satzger, Europäisierung <strong>de</strong>s Strafrechts (Fn. 1), S. 525;<br />
Jarass EuR 1991, 211, 217.<br />
20<br />
Hecker, Europäisches Strafrecht (Fn. 5), § 10 Rn. 12; Jarass<br />
EuR 1991, 211, 220; Dannecker Jura 2006, 173, 175; zur<br />
Geltung im Strafrecht Schrö<strong>de</strong>r a.a.O. (Fn. 7), S. 341; Gae<strong>de</strong>,<br />
in: Leipold/Tsambikakis/Zöller (Hrsg.), AnwaltKommentar-StGB,<br />
2010, § 1 Rn. 37; Dannecker, in: Laufhütte u. a.<br />
(Hrsg.), Bd. 1, §§ 1-31, LK-StGB, 12. Aufl. (2007), § 1 Rn.<br />
342 ff. Abzugrenzen ist diese Pflicht von <strong>de</strong>r Pflicht zur<br />
rahmenbeschlusskonformen Auslegung. Der EuGH hat in seiner<br />
„Pupino“ Entscheidung eine Pflicht postuliert, bei <strong>de</strong>r<br />
Auslegung <strong>de</strong>s nationalen Rechts die im Rahmen <strong>de</strong>r dritten<br />
Säule erlassenen Rahmenbeschlüsse auch nach <strong>de</strong>m<br />
Vertrag von Lissabon zu beachten; EuGH Slg. 2005, 5258<br />
(Pupino); siehe dazu Schramm, Internationales Strafrecht<br />
(Fn. 13), S. 129 Rn. 94; Safferling, Internationales Strafrecht<br />
(2011), § 11 Rn. 51.<br />
21<br />
Schmitz, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Müko-StGB, Bd. 1,<br />
§§ 1-37, 2. Aufl. (2011), § 1 Rn. 86; Dannecker, in: LK-StGB<br />
(Fn. 20), § 1 Rn. 344; Jarass EuR 1991, 211, 220.<br />
22<br />
Schrö<strong>de</strong>r a.a.O. (Fn. 7), S. 341.<br />
2. Reichweite<br />
a) Auslegung <strong>de</strong>s Unionsrechts als Vorfrage<br />
Zunächst setzt eine Pflicht zur unionsrechtskonformen<br />
Auslegung voraus, dass das Unionsrecht im Rahmen<br />
seines Anwendungsbereichs eine Vorgabe für die Auslegung<br />
<strong>de</strong>s nationalen Rechts macht. Ob dies <strong>de</strong>r Fall ist,<br />
ist zunächst mit <strong>de</strong>n für das Unionsrecht gelten<strong>de</strong>n Auslegungsgrundsätzen<br />
zu ermitteln. 23 Ergeben sich die<br />
Vorgaben für die Auslegung aus sekundärem Unionsrecht,<br />
muss dieses im Lichte <strong>de</strong>s primären Unionsrechts<br />
interpretiert wer<strong>de</strong>n. 24 Verstößt ein Unionsrechtsakt<br />
gegen primäres Unionsrecht, bleibt er wirkungslos. 25<br />
Ebenso wie <strong>de</strong>utsche Strafgesetze an <strong>de</strong>n Grundrechten<br />
und rechtsstaatlichen Prinzipien zu messen sind, muss<br />
das sekundäre Unionsrecht seinerseits am primären<br />
Unionsrecht gemessen wer<strong>de</strong>n. 26 Vor diesem Hintergrund<br />
wird die unionsrechtskonforme Auslegung auch<br />
als „mehrphasiger Interpretationsakt“ bezeichnet. 27 Lässt<br />
sich <strong>de</strong>m Unionsrecht eine Vorgabe für die Auslegung<br />
entnehmen, ist das allein keineswegs gleichbe<strong>de</strong>utend<br />
mit einer Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung.<br />
Es muss vielmehr geprüft wer<strong>de</strong>n, ob ein Auslegungsspielraum<br />
im nationalen Recht besteht, <strong>de</strong>r die Umsetzung<br />
<strong>de</strong>r unionsrechtlichen Vorgaben ermöglicht. 28<br />
b) Auslegungsspielraum im nationalen Recht<br />
Be<strong>de</strong>nkt man <strong>de</strong>n grundsätzlichen Anwendungsvorrang<br />
<strong>de</strong>s Unionsrechts, erscheint es kontraintuitiv, dass ein<br />
aus <strong>de</strong>m Unionsrecht abgeleitetes Auslegungsgebot vom<br />
Bestehen eines Auslegungsspielraums im nationalen<br />
Recht abhängt. 29 Betrachtet man jedoch <strong>de</strong>n Unterschied<br />
<strong>de</strong>r unionsrechtskonformen Auslegung zum Prinzip <strong>de</strong>s<br />
23<br />
W. H. Roth, in: Europäische Metho<strong>de</strong>nlehre (Fn. 15), § 14<br />
Rn. 34; zu <strong>de</strong>n Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Auslegung von Richtlinien<br />
Leenen JURA 2012, 753, 756.<br />
24<br />
Gae<strong>de</strong>/Mühlbauer wistra 2005, 9, 16.<br />
25<br />
Für eine Aufzählung <strong>de</strong>s primären Unionsrechts, das typischerweise<br />
sekundäres Unionsrecht mit <strong>strafrecht</strong>lich relevantem<br />
Inhalt betrifft, siehe (II. 2. c.). Das Primärrecht beeinflusst<br />
das sekundäre Unionsrecht auf zwei Weisen. Erstens<br />
kann es für seine Unwirksamkeit sorgen. Zweitens<br />
kann es einer Ausstrahlung <strong>de</strong>s sekundären Unionsrechts<br />
auf das nationale Strafrecht entgegenstehen. Letzteres<br />
kommt nur dann in Betracht, wenn das Sekundärrecht<br />
nicht bereits selbst an <strong>de</strong>n primärrechtlichen Vorgaben für<br />
das Strafrecht zu messen ist. Das ist zum Beispiel <strong>de</strong>r Fall,<br />
wenn eine Richtlinie mit verwaltungsrechtlichen Vorgaben<br />
in <strong>de</strong>n Mitgliedstaaten überschießend <strong>strafrecht</strong>lich umgesetzt<br />
wur<strong>de</strong>. Dann muss geprüft wer<strong>de</strong>n, ob die Auslegung<br />
nach <strong>de</strong>n Vorgaben <strong>de</strong>r Richtlinie <strong>de</strong>m im Rahmen <strong>de</strong>r unionsrechtskonformen<br />
Auslegung ebenfalls beachtlichen Primärrecht<br />
entspricht.<br />
26<br />
Schrö<strong>de</strong>r a.a.O. (Fn. 7), S. 444; Gae<strong>de</strong>/Mühlbauer wistra 2005,<br />
9, 16.<br />
27<br />
Hecker, Europäisches Strafrecht (Fn. 5), § 10 Rn. 22; Schrö<strong>de</strong>r<br />
a.a.O. (Fn. 7), S. 408 ff., 451 ff.<br />
28<br />
Hecker, Europäisches Strafrecht (Fn. 5), § 10 Rn. 34; Satzger,<br />
Europäisierung <strong>de</strong>s Strafrechts (Fn. 1), S. 533.<br />
29<br />
Grundlegend EuGH Slg. 1984, 1891, 1909 f. (von Colson<br />
und Kamann); 1894, 1921, 1942 (Harz); mit einer ausführlichen<br />
Analyse <strong>de</strong>r Urteile Satzger, Europäisierung <strong>de</strong>s<br />
Strafrechts (Fn. 1), S. 528 ff.<br />
<strong>HRRS</strong> Mai <strong>2013</strong> (5/<strong>2013</strong>)<br />
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