HRRS Ausgabe 5/2013 - hrr-strafrecht.de
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Aufsätze und Anmerkungen<br />
ten“ anzusetzen 155 und auf diese Weise gar, so die berühmte<br />
Sentenz von Kant, ein „Volk von Teufeln (wenn<br />
sie nur Verstand haben)“ 156 zur Regelbefolgung anleiten<br />
zu können. In gleicher Weise lässt sich sagen, dass auch<br />
ein Pädophiler mit seinen Neigungen zwar zu kämpfen<br />
hat, diese aber im Einzelfall wirksam zu unterdrücken im<br />
Stan<strong>de</strong> sein kann. 157 Kurz: Psychopathen und Pädophile<br />
können problemlos als „psychisch gestört, aber nicht<br />
krank“ bezeichnet wer<strong>de</strong>n. 158 Ferner ist auch ein Unterschied<br />
zum nicht-gestörten Hangtäter erkennbar; 159 <strong>de</strong>nn<br />
<strong>de</strong>ssen Hang braucht nicht auf einer messbaren Störung,<br />
son<strong>de</strong>rn kann auf an<strong>de</strong>ren dispositionellen Grün<strong>de</strong>n<br />
beruhen. Nach alle<strong>de</strong>m ist je<strong>de</strong>nfalls eine analytische<br />
Rekonstruktion <strong>de</strong>s Merkmals <strong>de</strong>r psychischen Störung<br />
entsprechend <strong>de</strong>r gesetzgeberischen Vorstellung möglich<br />
(ob sie darüber hinaus rechtspolitisch geboten ist,<br />
braucht hier nicht beurteilt zu wer<strong>de</strong>n 160 ).<br />
cc) Eine ganz an<strong>de</strong>re Frage geht dahin, ob Art. 316f Abs.<br />
2 EGStGB verfassungsrechtlichen Anfor<strong>de</strong>rungen genügt.<br />
Dies ist zu bejahen. Unbegrün<strong>de</strong>t ist <strong>de</strong>r Einwand Ullenbruchs,<br />
<strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>r psychischen Störung mangele es<br />
an Bestimmtheit i.S.d. Art. 103 Abs. 2 GG. 161 Das Merkmal<br />
ist sinnvoll interpretierbar (dazu oben) und wird<br />
vom BVerfG auch ausdrücklich im Sinne dieser Interpretation<br />
verstan<strong>de</strong>n. 162 Der generellen Vertrauensschutzproblematik<br />
<strong>de</strong>r nachträglichen Sicherungsverwahrung<br />
wird die Norm gerecht, in<strong>de</strong>m sie zusätzlich das vom<br />
BVerfG vorgegebene Kriterium <strong>de</strong>r hochgradigen Gefährlichkeit<br />
enthält.<br />
dd) Schwieriger zu beantworten ist die Frage nach <strong>de</strong>r<br />
Konventionskonformität. Eine Rechtfertigung gem. Art. 5<br />
Abs. 1 S. 2 lit. a EMRK schei<strong>de</strong>t aus, da die Anordnung<br />
<strong>de</strong>r nachträglichen Sicherungsverwahrung in einer anlasstatunabhängigen<br />
Entscheidung erfolgt; mithin mangelt<br />
es an einer Verurteilung im Sinne von lit. a. Grundlage<br />
kann <strong>de</strong>shalb allein lit. e sein. Fraglich ist allerdings,<br />
ob <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r psychischen Störung vom Rechtfertigungsgrund<br />
<strong>de</strong>r Freiheitsentziehung „bei [einem] psychisch<br />
Kranken“ ge<strong>de</strong>ckt ist. Dieser Punkt wird äußerst<br />
155<br />
Zsf. R. Merkel, in: Institut für Kriminalwissenschaften<br />
Frankfurt a.M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand <strong>de</strong>s<br />
Strafrechts (1995), S. 171, 183 ff. Zur bloßen Ergänzungsfunktion<br />
genuin altruistischer Interessen in diesem Begründungsmo<strong>de</strong>ll<br />
Zimmermann (Fn. 62), S. 81.<br />
156<br />
Kant, Zum Ewigen Frie<strong>de</strong>n. Ein philosophischer Entwurf<br />
(1796|1795), B 61|A 60. Dazu Englän<strong>de</strong>r, Diskurs als<br />
Rechtsquelle? (2002), S. 174 f.<br />
157<br />
Eindrückliche Schil<strong>de</strong>rung aus Betroffenensicht bei Faller<br />
Zeit-Magazin Nr. 44/2012.<br />
158<br />
So ausdrücklich Fischer (Fn. 12), § 20 Rn. 42 i.V.m. Rn. 41.<br />
159<br />
A.A. Morgenstern ZIS 2011, 974, 981; Streng JZ 2011, 827,<br />
832; G. Merkel Betrifft Justiz 2011, 202, 205 f.<br />
160<br />
Mit Recht betont Schöch JR 2012, 173, 174, dass die verbreitete<br />
Kritik am Begriff <strong>de</strong>r psychischen Störung – vgl.<br />
nur Kreuzer/Bartsch StV 2011, 472, 473 („Etikettenschwin<strong>de</strong>l“);<br />
Zabel JR 2011, 467, 471 („Psychiatrisierung“); Kinzig<br />
StraFo 2011, 429, 434 („Um<strong>de</strong>finierung“) – im Kern<br />
rechtspolitischer Natur ist.<br />
161<br />
Ullenbruch StV 2012, 44, 49. Zweifelnd auch Nußstein NJW<br />
2011, 1194; Morgenstern ZIS 2011, 974, 978 mit Fn. 37;<br />
Krehl StV 2012, 27, 29; An<strong>de</strong>rs JZ 2012, 498, 503.<br />
162<br />
BVerfG StV 2012, 25, 26 Tz. 36.<br />
Zimmermann – Das neue Recht <strong>de</strong>r Sicherungsverwahrung (ohne JGG)<br />
kontrovers beurteilt. 163 Teilweise wird argumentiert, eine<br />
psychische Krankheit i.S.v. lit. e erfor<strong>de</strong>re min<strong>de</strong>stens<br />
einen Zustand vermin<strong>de</strong>rter Schuldfähigkeit i.S.d. § 21<br />
StGB 164 – womit das soeben skizzierte Konzept <strong>de</strong>r psychischen<br />
Störung unter konventionsrechtlichen Gesichtspunkten<br />
hinfällig wäre. Eine gewisse Stütze fin<strong>de</strong>t<br />
diese Auffassung zum einen darin, dass <strong>de</strong>r Wortlaut <strong>de</strong>s<br />
Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. e EMRK („krank“) näher an § 20<br />
StGB als an Art. 316f Abs. 2 S. 2 EGStGB zu liegen<br />
scheint, zum an<strong>de</strong>ren in <strong>de</strong>m Umstand, dass die bisherige<br />
EGMR-Rspr. eine Aussage <strong>de</strong>s Inhalts, „psychisch<br />
krank“ könne auch sein, wer voll schuldfähig ist, nicht<br />
enthält. 165 In<strong>de</strong>s ist die Rspr. <strong>de</strong>s EGMR in diesem Punkt<br />
insoweit unein<strong>de</strong>utig, als ihr eine gegenteilige Aussage<br />
ebenfalls nicht entnommen wer<strong>de</strong>n kann; 166 die Frage ist<br />
folglich offen. 167 Für die Konventionskonformität <strong>de</strong>s<br />
Störungs-Konzepts spricht immerhin ein Vergleich mit<br />
<strong>de</strong>r letztgenannten Variante <strong>de</strong>s lit. e: Wenn sogar die<br />
ohne Verurteilung erfolgen<strong>de</strong> Freiheitsentziehung von<br />
„Landstreichern“ gerechtfertigt sein kann, 168 erscheint es<br />
wenig plausibel, die präventive Verwahrung psychisch<br />
gestörter Gewalttäter per se für Unrecht zu erklären. 169<br />
4. Parallelfälle und<br />
Rückwirkungsproblematik<br />
Beson<strong>de</strong>re Schärfe erhält das Instrument <strong>de</strong>r Sicherungsverwahrung<br />
in jenen Altfällen, bei <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Freiheitsentzug<br />
auf <strong>de</strong>r Basis eines im Zeitpunkt <strong>de</strong>r Anlasstat<br />
noch nicht bestehen<strong>de</strong>n Gesetzes erfolgt. Die damit verbun<strong>de</strong>ne<br />
Rückwirkungsproblematik betrifft alle <strong>de</strong>r bisher<br />
erörterten Formen <strong>de</strong>r Sicherungsverwahrung: Die<br />
anfängliche (durch <strong>de</strong>n rückwirken<strong>de</strong>n Wegfall <strong>de</strong>r Zehn-<br />
Jahres-Höchstfrist), die vorbehaltene (wenn die Anlasstat<br />
vor Inkrafttreten <strong>de</strong>s SichVEG begangen wor<strong>de</strong>n ist) und<br />
die nachträgliche (bei Anwendung auf vor <strong>de</strong>m Inkrafttreten<br />
<strong>de</strong>s SichVNachtragEG Verurteilte). Diese Fallgruppen<br />
wer<strong>de</strong>n mit Blick auf die Entscheidungen <strong>de</strong>s<br />
EGMR zum Rückwirkungsverbot gem. Art. 7 Abs. 1<br />
EMRK bei strafähnlicher Sicherungsverwahrung als „Pa-<br />
163<br />
Für Konventionskonformität BVerfG StV 2012, 25, 26 Tz.<br />
35 ff. (obiter dictum); BGHSt 56, 254, 262 Tz. 26; Schöch<br />
NK 2012, 47, 50; dagegen Kreuzer ZRP 2011, 7, 10; <strong>de</strong>rs./<br />
Bartsch StV 2011, 472, 473; Streng JZ 2011, 827, 832; Renzikowski<br />
ZIS 2011, 531, 538. Zweifelnd An<strong>de</strong>rs JZ 2012, 498,<br />
503 f.<br />
164<br />
Ullenbruch StV 2012, 44, 47; Satzger StV <strong>2013</strong>, 243, 249 Fn.<br />
77. Ähnlich Höffler/Stadtland StV 2012, 239, 242 f., wonach<br />
<strong>de</strong>r Störungsbegriff EMRK-konform dahingehend auszulegen<br />
sei, dass je<strong>de</strong>nfalls eine „erhebliche“ psychische Störung<br />
mit Krankheitswert i.S.d. biologischen Komponente<br />
<strong>de</strong>r §§ 20, 21 StGB vorliegen muss. Schöch JR 2012, 173,<br />
176 empfiehlt, zur konventionsrechtlichen Absicherung <strong>de</strong><br />
lege ferenda eine „schwere psychische Störung“ vorauszusetzen.<br />
165<br />
Renzikoswki ZIS 2011, 531, 537 f.; Krehl StV 2012, 27, 30;<br />
Eschelbach (Fn. 36), § 66b Anh. ThUG Rn. 5.<br />
166<br />
Morgenstern ZIS 2011, 974, 978 ff.<br />
167<br />
Esser (Fn. 100), Art. 5 EMRK/Art. 9, 10, 11 IPBPR Rn. 153<br />
Fn. 432.<br />
168<br />
Dazu Esser (Fn. 100), Art. 5 EMRK/Art. 9, 10, 11 IPBPR<br />
Rn. 158.<br />
169<br />
Ähnliches Argument bei Hörnle NStZ 2011, 488, 490.<br />
<strong>HRRS</strong> Mai <strong>2013</strong> (5/<strong>2013</strong>)<br />
175