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HRRS Ausgabe 5/2013 - hrr-strafrecht.de

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Aufsätze und Anmerkungen Begemeier – Reichweite <strong>de</strong>r unionsrechtskonformen Auslegung im <strong>de</strong>utschen Straf- und Strafverfahrensrecht<br />

Anwendungsvorrangs, so wird <strong>de</strong>utlich, warum diese<br />

Einschränkung zwingend ist.<br />

aa) Verhältnis zum Anwendungsvorrang<br />

Der Anwendungsvorrang ist ein Kollisionsprinzip, welches<br />

das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem<br />

Recht bestimmt. 30 Er beruht auf <strong>de</strong>r Rechtsprechung <strong>de</strong>s<br />

EuGH, nach <strong>de</strong>r sich unmittelbar anwendbares Unionsrecht<br />

im Kollisionsfall gegenüber nationalem Recht<br />

durchsetzt. 31 Im Gegensatz zum Anwendungsvorrang ist<br />

die unionsrechtskonforme Auslegung nicht von <strong>de</strong>r unmittelbaren<br />

Anwendbarkeit eines Rechtsakts abhängig,<br />

son<strong>de</strong>rn umfasst gleichermaßen nicht unmittelbar anwendbares<br />

Unionsrecht. Aus diesem Unterschied lässt<br />

sich ableiten, warum das Auslegungsgebot nur im Rahmen<br />

<strong>de</strong>s nationalen Rechts wirken kann. Eine Pflicht zur<br />

unionsrechtskonformen Auslegung, das nationale Recht<br />

auch entgegen <strong>de</strong>r nationalen Methodik auszulegen,<br />

käme in ihrer Wirkung <strong>de</strong>m Anwendungsvorrang <strong>de</strong>s<br />

Unionsrechts gleich. 32 Dem nationalen Recht wür<strong>de</strong> eine<br />

Lösung vorgegeben, auch wenn sie unter Zugrun<strong>de</strong>legung<br />

<strong>de</strong>r Methodik <strong>de</strong>s jeweiligen Mitgliedstaats unvertretbar<br />

wäre. Das be<strong>de</strong>utete nichts an<strong>de</strong>res, als nationales<br />

Recht außer Acht zu lassen und durch eine Lösung auf<br />

Grundlage <strong>de</strong>s Unionsrechts zu ersetzen. Das wür<strong>de</strong> zu<br />

einem Anwendungsvorrang <strong>de</strong>s gesamten Unionsrechts<br />

führen. 33 Eine <strong>de</strong>rart ausgestaltete Pflicht wür<strong>de</strong> eine<br />

Kompetenz zur Harmonisierung <strong>de</strong> facto in eine Kompetenz<br />

zur Rechtssetzung umwan<strong>de</strong>ln. Deshalb lässt sich<br />

eine über <strong>de</strong>n Anwendungsvorrang hinausgehen<strong>de</strong><br />

Pflicht zur Beachtung <strong>de</strong>s gesamten Unionsrechts nur<br />

rechtfertigen, wenn das nationale Recht einen Auslegungsspielraum<br />

einräumt 34 . Insofern ist ein Auslegungsspielraum<br />

im nationalen Recht eine Bedingung für die<br />

Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung. 35 Mit<br />

an<strong>de</strong>ren Worten: „Die unmittelbare Wirkung verdrängt<br />

das nationale Recht, die [unionsrechtskonforme] Ausle-<br />

30<br />

Siehe beispielsweise Satzger a.a.O. (Fn. 2), § 9 Rn. 77;<br />

Hecker, Europäisches Strafrecht (Fn. 5), § 10 Rn. 1.<br />

31<br />

EuGH Slg. 1964, 1251, 1269 ff. (Costa/ENEL); 1963, 1, 27<br />

(Van Gend & Loos).<br />

32<br />

Satzger, Europäisierung <strong>de</strong>s Strafrechts (Fn. 1), S. 528; <strong>de</strong>rs.<br />

a.a.O. (Fn. 2), § 9 Rn. 52.<br />

33<br />

Satzger, Europäisierung <strong>de</strong>s Strafrechts (Fn. 1), S. 529;<br />

Schrö<strong>de</strong>r a.a.O. (Fn. 7), S. 352 f.<br />

34<br />

EuGH Slg. 1984, 1891, 1901 (von Colson und Kamann);<br />

1894, 1921, 1935 (Harz).<br />

35<br />

Begriffliche Präzisierung: Die in <strong>de</strong>r Literatur gebräuchliche<br />

Bezeichnung „nationale Grenze“ bezeichnet die dargestellten<br />

Zusammenhänge unpräzise. Von Art. 4 III EUV geht<br />

ein Auslegungsgebot nur dann aus, wenn nach nationalem<br />

Recht überhaupt ein Auslegungsspielraum existiert. Daraus<br />

ergeben sich zwei Kritikpunkte an <strong>de</strong>r Bezeichnung „nationale<br />

Grenze“: Da die Entstehung <strong>de</strong>r Pflicht von einem<br />

Auslegungsspielraum nach nationalem Recht abhängt,<br />

han<strong>de</strong>lt es sich um eine Bedingung. Beispielsweise besteht<br />

kein Konflikt zwischen Art. 4 III EUV und Art. 103 II GG,<br />

wenn eine Richtlinie die Auslegung eines Straftatbestan<strong>de</strong>s<br />

über seinen Wortlaut hinaus for<strong>de</strong>rt. Eine Pflicht entsteht<br />

gar nicht erst. Darüber hinaus ist zwar zuzugestehen, dass<br />

<strong>de</strong>r Inhalt dieser Bedingung sich nach <strong>de</strong>m nationalen Recht<br />

richtet. Diese Terminologie verschleiert aber, dass es sich<br />

aus dogmatischer Sicht um eine unionsrechtliche Bedingung<br />

han<strong>de</strong>lt, die inhaltlich an das nationale Recht anknüpft.<br />

gung nutzt es.“ 36 Sie muss sich dabei aber an seine Auslegungsregeln<br />

halten. 37<br />

bb) Reichweite im <strong>de</strong>utschen Strafrecht und Art. 103 Abs.<br />

2 GG<br />

Nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Einfluss <strong>de</strong>s nationalen Rechts auf das<br />

Auslegungsgebot nun abstrakt bestimmt wor<strong>de</strong>n ist, wird<br />

im Folgen<strong>de</strong>n die Reichweite <strong>de</strong>r unionsrechtskonformen<br />

Auslegung im <strong>de</strong>utschen Strafrecht skizziert. Entsprechend<br />

<strong>de</strong>m vorher Gesagten kann die Pflicht nur soweit<br />

reichen, wie das <strong>de</strong>utsche Strafrecht und das gesamte<br />

einschlägige Verfassungsrecht einen Auslegungsspielraum<br />

eröffnen. Dieser Auslegungsspielraum wird maßgeblich<br />

durch Art. 103 Abs. 2 GG bestimmt. Um genau<br />

beurteilen zu können, wo seine Grenzen verlaufen, muss<br />

untersucht wer<strong>de</strong>n, welchen Rahmen Art. 103 Abs. 2 GG<br />

für die Auslegung <strong>de</strong>s Strafrechts vorgibt. Im Zusammenhang<br />

mit <strong>de</strong>r unionsrechtskonformen Auslegung<br />

nennt <strong>de</strong>r überwiegen<strong>de</strong> Teil <strong>de</strong>r Literatur bislang einzig<br />

<strong>de</strong>n Wortlaut als Auslegungsgrenze. 38 Allerdings hat sich<br />

jüngst das BVerfG grundlegend zu Art. 103 Abs. 2 GG<br />

und <strong>de</strong>ssen Be<strong>de</strong>utung für die Auslegung <strong>de</strong>s Strafrechts<br />

geäußert. 39 Das BVerfG hat <strong>de</strong>n im Gesetzlichkeitsprinzip<br />

<strong>de</strong>s Art. 103 Abs. 2 GG enthaltenen Bestimmtheitsgrundsatz<br />

auf die Strafgerichte erstreckt und daraus neue<br />

Vorgaben für die Auslegung <strong>de</strong>s Strafrechts abgeleitet. 40<br />

Die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Beschlusses für die unionsrechtskonforme<br />

Auslegung wird bisher we<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r einschlägigen<br />

Literatur noch in <strong>de</strong>n zahlreichen Anmerkungen erwähnt.<br />

Einige <strong>de</strong>r Vorgaben betreffen jedoch <strong>de</strong>n verfassungsrechtlich<br />

vorgegebenen Auslegungsspielraum und<br />

damit die Reichweite <strong>de</strong>r unionsrechtskonformen Auslegung<br />

im Strafrecht.<br />

(1) Erweitertes Analogieverbot<br />

Nach <strong>de</strong>m klassischen Verständnis vom Analogieverbot<br />

ist <strong>de</strong>r Wortlaut die äußerste Grenze <strong>de</strong>r zulässigen rich-<br />

36<br />

Langenbucher, Europarechtliche Bezüge <strong>de</strong>s Privatrechts, 2.<br />

Aufl. (2008), § 1 Rn. 87.<br />

37<br />

Durch diese Bedingung ist auch das Verhältnis <strong>de</strong>r unionsrechtskonformen<br />

Auslegung zu <strong>de</strong>n nationalen Auslegungsmetho<strong>de</strong>n<br />

vorgegeben. Sie hat gegenüber <strong>de</strong>n klassischen<br />

Auslegungsmetho<strong>de</strong>n einen relativen Vorrang, tritt<br />

aber hinter <strong>de</strong>r verfassungskonformen Auslegung zurück;<br />

Huber, Recht <strong>de</strong>r Europäischen Integration, 2. Aufl. (2002),<br />

S. 169 Rn. 33 ff.; Satzger, Europäisierung <strong>de</strong>s Strafrechts<br />

(Fn 1.), S. 532.<br />

38<br />

Ambos, Internationales Strafrecht (Fn. 5), § 11 Rn. 54;<br />

Hecker, Europäisches Strafrecht (Fn. 5), § 10 Rn. 34;<br />

Schramm, Internationales Strafrecht (Fn. 13), S. 126 Rn. 86;<br />

Safferling, Internationales Strafrecht (Fn. 20), § 11 Rn. 50;<br />

präziser aber bereits Gae<strong>de</strong>, in: AnwK-StGB (Fn. 20), § 1<br />

Rn. 37.<br />

39<br />

BVerfG NJW 2010, 3209 = <strong>HRRS</strong> 2010 Nr. 656; die Be<strong>de</strong>utung<br />

betont Saliger NJW 2010, 3195, 3196.<br />

40<br />

Saliger NJW 2010, 3195, 3198; <strong>de</strong>rs. ZIS 2011, 902; Schünemann<br />

StraFo 2010, 477, 480: „<strong>de</strong>m zuvor eher brach liegen<strong>de</strong>n<br />

Bestimmtheitsgrundsatz für die Verfassungsmäßigkeit<br />

von Strafrechtsnormen eine Schlüsselrolle zugewiesen“;<br />

Kuhlen JR 2011, 246, 247: „Meilenstein“; Schulz, Neues zum<br />

Bestimmtheitsgrundsatz, in: Heinrich u. a. (Hrsg.), Festschrift<br />

für Claus Roxin II (2011), S. 315; a.A. zum Beispiel<br />

Krüger NStZ 2011, 369, 370 und Radtke GmbHR 2010,<br />

1121, die in <strong>de</strong>m Beschluss keine neuen Vorgaben sehen.<br />

<strong>HRRS</strong> Mai <strong>2013</strong> (5/<strong>2013</strong>)<br />

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